Stadt Willich Vom Fremdeln in einer geschäftigen Welt

Stadt Willich · In seinem fünften Lyrikband "Wolken - Haltestellen" verarbeitet Marcell Feldberg Impressionen zwischen Advent und Ostern.

Gerade ist sein neues Buch erschienen, eben hat er es mir noch in die Hand gedrückt und bei einer Tasse Kaffee darüber gesprochen, jetzt ist er schon wieder unterwegs - auf dem Weg nach Wien, zu Fritzi, wie er seine 90-jährige Dichterfreundin Friederike Mayröcker nennen darf. Und vielleicht sammelt er dabei wieder Eindrücke für neue Texte.

Ein Tagebuch hat Marcell Feldberg sein neues Buch im Untertitel genannt. Der Dichter, Kirchenmusiker an St. Hubertus, hat seinen fünften Lyrikband vorgelegt: "Wolken - Haltestellen". Entstanden ist ein Tagebuch auf dem Weg vom Winter in den Frühling. Feldberg beginnt in der Adventszeit 2014 mit seiner Reise nach Wien zum 90. Geburtstag Mayröckers. Und es endet am Ostermontag 2015. Der letzte Text des Buches beginnt mit der Zeile "Stehe auf offener Straße. Schaue in den Himmel". Als Kirchenmusiker ist er eng mit dem Kalender des Kirchenjahres vertraut - und da steht der Ostermontag für die Jünger auf dem Weg nach Emmaus, die ihren Herrn nicht erkennen.

"Wolken - Haltestellen" ist ein außerordentlich starkes Buch geworden. Die Texte sind komplex wie geheimnisvoll, in ihnen reihen sich wunderbare sprachliche Formulierungen, Fundstücke aus seinem roten "Sudelbuch", gekonnt und mit scheinbarer Leichtigkeit aneinander. "Tagebuch" ist ein leicht untertriebener Begriff für diese Texte. Die Eintragungen zu den verschiedenen Tagen dienen dazu, das Erlebte zu reflektieren und aus dem Persönlichen und Banalen herauszulösen. Während Feldberg im Zug Werke von Jacques Derrida liest (eine Meisterleistung der Konzentration im flüchtigen Zug), fasziniert ihn das Prinzip der Dekonstruktion des französischen Philosophen so sehr, dass er Fundstücke seiner Lektüre in seine neuen Texte einstreut, durch Kursivdruck für jedermann kenntlich gemacht. So schleichen sich der "Horizont des Vorwissens" und die "Logik des Jenseits" ein, ebenso die "Fremdheit im Zuhause". Das kritische Hinterfragen und Auflösen eines Textes kommt Feldberg gelegen, Was soll ein allgemeiner "Deutungswahn" mit der komprimierten Sicht auf die Welt in der Lyrik? Wobei in diesem Band die Texte im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Prosa schweben. Die Definitionsfrage, was Lyrik ist und was nicht mehr, interessiert Feldberg nicht. Erst recht kommt es seinem assoziativen Schreiben entgegen, wenn sich die Gegenstände verästeln und ständig neue Verweispfeile auftauchen.

Bei Derrida hat er die Frage gefunden, wie man mit seinem Gedächtnis umgeht. Das Archivieren der Erinnerungen und Eindrücke im Kopf ist rein subjektiv. Das Gehirn funktioniert eben anders als ein Computer. Der Mensch verfügt über ein kreatives Archiv. Feldberg vergleicht es mit einem Besuch in einer Bibliothek, wo man ein Buch sucht und rechts und links im Regal mehr findet. In seinem Hölderlin-Band ist Feldberg den umgekehrten Weg gegangen: von der Vielfalt in die Konzentration, jetzt geht er in die Vielfalt hinein.

Zwischen Advent und Ostern geht es nicht nur um die Reise nach Wien. Auch Abstecher nach Paris und Amsterdam (Rembrandt-Porträt) spielen eine Rolle, seine vielfachen Wege nach Düsseldorf, aber auch der Nordkanal taucht wieder in den Texten auf. Nicht nur Derrida war für die Entstehung wichtig, sondern Feldberg hat auch gerade Walter Benjamin wiedergelesen und ließ sich von dessen "Passagen" und Paris-Impressionen beeindrucken. Auch Paul Nizons Großstadtsog hat er in Paris nachgespürt.

Kunstvoll sind die Texte des Buches ineinander verwoben, die Texte knüpfen aneinander an. Gerne benennt Feldberg auch Bilder wie den Bus-Stop von Niels Sievers, ein Meisterschüler von Jörg Immendorff, oder Kompositionen (Bach und John Cage) als Ausgangspunkte seines persönlichen Archivs. Man kann, muss aber für die Lektüre nicht den Bildern und Kompositionen, die Feldberg im Buch benennt, im Internet nachspüren. Aber es macht durchaus Spaß. Durch John Cage hat er die Wahrnehmung von Stille, die die Ohren für anderes öffnet, neu erfahren. Und völlig überraschend begegnet man Feldberg auf einer Anti-Pegida-Demo in Düsseldorf. Und der Autor - zumindest sein poetisches Ich - bekennt sich zum Zeitungslesen, bei dem er "die Gegenwart mit dem Zeigefinger berührt" und "mit der geschäftigen Welt" fremdelt, während wir als Leser seiner Gedichte dem "Parlando des Schweigens" und dem "Gezwitscher der Wiederholungen" gerne zuhören.

(RP)
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