Willich Der Nooteboom-Coup

Willich · Er war Deutschlehrer am Krefelder Moltke-Gymnasium und hat als Fachleiter Referendare ausgebildet. Nach der Pensionierung entfaltete der promovierte Germanist Helmut Nobis eine erstaunliche publizistische Tätigkeit. Mit einem Buch über Cees Nootebooms "Die folgende Geschichte" gelang ihm ein echter Coup.

 Mit seiner Dissertation hat Helmut Nobis nun ein Dutzend Bücher veröffentlicht.

Mit seiner Dissertation hat Helmut Nobis nun ein Dutzend Bücher veröffentlicht.

Foto: Lammertz

Der Mann ist, wenn es um ihn selbst geht, ein ungeduldiger Gesprächspartner: Helmut Nobis, Jahrgang '47, ehemals Lehrer am Moltke-Gymnasium, als Fachleiter lange Jahre zuständig für die Ausbildung von Deutsch-Referendaren, vor allem aber promovierter Germanist und bis heute leidenschaftlich dem zugetan, über das er viel lieber redet als über sich selbst: Literatur. Nobis hat schon lange vor, aber besonders nach seiner Pensionierung eine erstaunliche literarwissenschaftlich-publizistische Tätigkeit entfaltet, die jetzt in einem echten Coup gipfelt: Im renommierten Suhrkamp Verlag hat er eine Ausgabe von "Die folgende Geschichte" von Cees Nooteboom besorgt und dazu einen Kommentar geschrieben, der sowohl eine packende Entstehungs- und Wirkungsgeschichte wie einen fesselnden Forschungsbericht über die Deutung der Erzählung liefert.

Nobis' Band erscheint zudem im Jubiläumsjahr der Erzählung: Sie ist vor 25 Jahren erstmals erschienen. Der extrem medienscheue Nooteboom war daher Gast auf der jüngst zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland Niederlande/Flandern, und der Besuch des niederländischen, Jahr für Jahr als Literaturnobelpreisträger gehandelten Schriftstellers aus dem Nachbarland darf auch als Verbeugung vor dem Mann gesehen werden, dem er seine schlagartige Berühmtheit verdankt: Marcel Reich-Ranicki.

Nobis erinnert ausführlich an diese herausragende Tat des legendären Kritikers: Nachdem Reich-Ranicki im Literarischen Quartett Nooteboom hymnisch als einen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart gerühmt hatte, schossen die Verkaufszahlen in astronomische Höhen - es war dies der vielleicht beeindruckendste Beleg für die Wirkmächtigkeit dieses Mannes.

Dabei sah es anfangs keineswegs danach aus, wie Nobis darlegt. Die Reaktionen der niederländischen Kritiker auf Nootebooms Buch waren durchwachsen. Der exklusive Außenseiter war kein richtig Berühmter, aber auch kein richtig Unbekannter; Eingeweihte schätzten ihn, und so gab es positive Besprechungen voller Respekt, aber auch Äußerungen voller Skepsis, die in der "Folgenden Geschichte" ein "pseudointellektuelles Glasperlenspiel", ein "willkürliches und gekünsteltes Spiel mit tieferen Geheimnissen des Lebens", ja "etwas Kitschiges" sahen.

Diese Geringschätzung hat sich gründlich erledigt. Nootebooms schmales Bändchen - die Erzählung umfasst nur 103 Seiten - wird heute als Meisterwerk gewürdigt, in dem Möglichkeiten und Bedingungen des Erzählens raffiniert reflektiert werden. Nobis liefert dazu einen Forschungsbericht und auf dieser Grundlage eigene Deutungsansätze, die er in einer komplexen Strukturskizze zusammenfasst. Hat man dazu die Erzählung (wieder-)gelesen und sich auf das "beinahe chaotische Ereignistableau" (Nobis) eingelassen, dann ist man dem Leben des Amsterdamer Studienrates und Reiseschriftstellers Hermann Mussert gefolgt, dazu seiner Liebschaft mit seiner Kollegin Maria Zeinstra, ebenso der schönen, rätselhaft begabten Schülerin Lisa d'India und dem eifersüchtigen Sportlehrer Arend Herfst, und hat man die wunderbare Sprache Nootebooms, die einen auch durch schwer verständliche Passagen der Erzählung trägt, geschlürft wie besten Rotwein, dann ahnt man, dass man die Geschichte auch ein drittes Mal lesen wird. Nobis' Nooteboom-Buch ist in der Reihe "Suhrkamp BasisBibliothek" erschienen, die kommentierte Ausgaben für Schule und Studium versammelt. Bei allen lexikalisch-praktischen Erläuterungen zum Verständnis sind die Werke in der Reihe doch entschieden fachwissenschaftlich ambitioniert - wer literaturwissenschaftlich infiziert ist, wird hier reichlich Nahrung und Anregung finden. Vor Nooteboom hat Nobis bei Suhrkamp acht weitere Ausgaben besorgt, Werke von Eichendorff, Fontane, Goethe, Kleist, Schiller und Stefan Zweig. Jeder Band umfasst neben der kommentierten Textausgabe einen systematisierenden Blick in die Forschung und Deutungsansätze, wobei Nobis nie einen Zweifel daran lässt, wo er Substanz und wo Irrwege sieht. Solche Leidenschaft prägte auch seinen Unterricht: Es gab Zeiten, da hat er in der Oberstufe freiwillig Literaturkurse angeboten, und seine Schüler lasen und diskutierten alle 14 Tage bei einem Lektüre-Pensum von 200 Seiten wöchentlich einen neuen Roman - vor allem europäische Realisten wie Fontane, Balzac, Flaubert oder Dostojeski, aber auch zeitgenössische Romane und Erzählungen wie die des 2014 verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Marquez.

Wie sehr Nobis sich an fachwissenschaftlichen Standards orientiert, zeigt auch der Coup vor dem Nooteboom-Coup: Seine Stefan-Zweig-Ausgabe der "Schachnovelle" hat es zu wissenschaftlichen Ehren gebracht. Die renommierte Fachzeitschrift "Euphorion" druckt in Heft 4 des laufenden Jahrgangs seinen Beitrag über die verwickelte Geschichte der Skripte für diese Erzählung. Seine akribische Rekonstruktion trägt Züge eines Krimis, da Zweig die Novelle kurz vor seinem Selbstmord verfasst und gegen seine Absicht in verschiedenen Fassungen auf den Weg gebracht hat. Eine bewegende Geschichte: Textkritisches, editorisches und literarisches Drama fallen in diesem Fall in eins mit der seelischen Katastrophe eines Schriftstellers, der seinem Leben ein Ende setzt, kurz vorher aber noch seine letzte Geschichte mit Akribie auf den Weg bringt; gerade so, als sei der Tod nur das vorletzte Wort nach dem letzten - dem literarischen.

Darin berührt sich die Thematik mit dem Buch von Nooteboom - auch dort dreht sich vieles um den Tod und die Möglichkeit des Standhaltens im Erzählen. Vielleicht war es ja auch das, was den Literaturbesessenen Reich-Ranicki an Nooteboom fasziniert hat: Leidenschaft fürs Erzählen kommt an kein Ende - auch nicht am Rande des Todes.

Die literaturkritischen Schriften von Helmut Nobis folgen solchen Spuren und laden ein, sie mitzugehen. Wer Literatur liebt, wird daran erinnert, warum. Jens Voss

(RP)
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