Marcell Feldberg: Vier Poetische Miniaturen Zur Karwoche Und Ostern "Auf grauen Grund getuscht"

Kempen · I

 Blick durch das Fenster eines Leuchtturmes in den Niederlanden auf den Strand und die Nordsee.

Blick durch das Fenster eines Leuchtturmes in den Niederlanden auf den Strand und die Nordsee.

Foto: MARCELL FELDBERG

I In der Karwoche wurden zu Großmutters Zeiten immer die Schränke ausgeräumt und ausgewaschen = Purifikation prae Paschalis. Dieses Großreinemachen zog sich hin bis zum letzten Abendmahl. Alles sollte leer und sauber sein = Tabula rasa, der Wunsch nach einem vorbehaltlosen Neubeginn.

Vor einigen Jahren erlebte ich den Himmel an Gründonnerstag ganz blau = blaugeputzt. Nicht ein einziges Wölkchen war zu sehen. Nur eine Einbildung: Einsam kreisende Schatten eines Vogels. Seine Schwingen malen mit der unsichtbaren Handschrift eines unbekannten Autors schaukelnde Zeichen an den Horizont = Wiegende Melodie.

Vielleicht die wiegende Weise von "Ubi caritas et amor, Deus ibi est": Gregorianischer Gesang zur Fußwaschung, der gleichsam schwerelos schwebend von einer reinen und vorbehaltlosen Liebe kündet. Im verblassenden blanken Blau des frühen Abends diese Musik ohne Zutun von außen = Endlosschleife, die alles (un-)sichtbare Sehnen mit dem Augenblick der Wirklichkeit zu verbinden scheint.

II

Vor meinem Fenster: Abnehmendes Sonnenlicht: Und die Erde verfinsterte sich. Aufziehendes Wintergewitter: Dunkle Wolken dräuen am Himmel. Cumulus Wolken = Wolkenhaufen. Ein Moment von Weltuntergangsstimmung. Dumpfes Dröhnen = die grummelnden Bässe eines Chorsatzes aus Bach "Matthäuspassion" - ein erregendes, aufwühlendes Klangbild: Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden.

Es zucken die Blitze durch Chor- und Orchesterstimmen, es krachen die Klänge. Toben und Getümmel einer aufgescheuchten Menschenmasse, einer aufgebrachten Natur = Aufstand alles Lebendigen. Regen rauscht herab, dann trommeln dicke Hagelkörner auf das Dach meines Hauses. Ein ohrenbetäubender Lärm, der alles verstummen lässt.

Dann ganz unvermutet wieder Licht, ein beinahe schon strahlendes Aufklaren. Ich öffne das Fenster. Ein Schwall klarer Kaltluft polaren Ursprung fällt ins Zimmer = Botschaft einer totalen Erschöpfung; ein Echo vom Ende in Bachs "Matthäuspassion": Am Abend da es kühle war...

III

Grau die Wolkendecke = Morgen-Grauen. Der Morgen danach. Ein Geruch von Nebel liegt in der Luft. Eine verstörende Ruhe breitet sich über einer wie leergefegten Landschaft aus. Felder und Flure in unendlicher Brache - wie damals, vor einigen Jahren, als während der Maul- und Klauenseuche vor Ostern alle Tiere von den Weiden genommen werden mussten.

Es scheint, als würde sich langsam und unmerklich ein Klagegesang erheben: Sicut ovis ad occisionem ("Wie ein Lamm ward er zum Schlachten geführt"). Eine Musik von Gesualdo aus dem frühen 17. Jahrhundert, jenem Komponisten, der in einem Anfall von rasender Eifersucht seine Ehefrau und deren Liebhaber inflagranti erwischte und in einem Akt von Übertötung dahin meuchelte. Traditus est ad mortem ("Preisgegeben ward er dem Tode").

Ausgepreist (= aus gepriesen). Irritierende Klänge = auf grauen Grund getuscht: Dunkle Umfärbung der dahin sinkenden Tonfolgen = Hinabsinken in die Grabesruhe. Eine Musik, die mich aus der Landschaft spannt. Für einen Moment stehe ich verlassen am Wegesrand der Erinnerung: Der Duft von frisch gebackenem Hefe-Lamm, das immer am Karsamstag gebacken wurde, steigt mir durch die Nase in die Gedanken.

Teil IV folgt in der Samstagsausgabe.

(RP)
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