Wesel Zurück an meiner alten Schule

Wesel · Vor 28 Jahren hat unser Gastredakteur am Andreas-Vesalius-Gymnasium (AVG) Abitur gemacht. Mittlerweile arbeitet er in Frankfurt. Seinen Aufenthalt in unserer Redaktion hat er dazu genutzt, seine Schule noch einmal zu besuchen.

 Stefan Dickmann in seiner alten Schulklasse (9. Schuljahr) am Andreas-Vesalius-Gymnasium (AVG).

Stefan Dickmann in seiner alten Schulklasse (9. Schuljahr) am Andreas-Vesalius-Gymnasium (AVG).

Foto: Fritz Schubert/Stefan Dickmann

Ja, das ist meine alte Schule. Ohne Zweifel. Genauso, wie ich sie in Erinnerung habe. Die Eingangshalle, die Treppenhäuser, die Flure – als sei die Zeit stehen geblieben; sogar einige der Durchgangstüren scheinen die alten zu sein. Wäre ich wieder 17 Jahre, wüsste ich, in welchem Raum mein Englisch-Leistungskurs ist, wo es zum Musiksaal geht, und dass es immer noch verboten ist, sich auf dem Flachdach über dem Lehrerzimmer aufzuhalten. Unser Englisch-LK hat dort trotzdem sein Abschlussfoto gemacht.

Das letzte Mal war ich vor 28 Jahren hier am Andreas-Vesalius-Gymnasium (AVG). Meine Abi-Note war nicht besonders gut und nicht besonders schlecht, der Berufswunsch offen. Kohl war Kanzler, Deutschland noch nicht wiedervereinigt, und mein Lieblingsfußballverein immer noch nicht in die Erste Liga aufgestiegen. Sicher war nur: Jetzt geht es zur Bundeswehr (keine so gute Idee), und danach wird studiert (ein Segen nach dem Militär).

Neun Jahre habe ich dieses Gymnasium besucht. Nein, ich bin nicht sitzengeblieben. Wer uns in den 80er Jahren etwas von G 8 erzählt hätte, hätte nur in ratlose Gesichter geschaut. Aber das Abitur nach acht Jahren ist am AVG schon bald wieder Vergangenheit, erzählt Schulleiterin Dorothée Brauner in ihrem Büro. Wer nach den Sommerferien in die fünfte Klasse des AVG kommt, macht wieder nach neun Jahren seinen Abschluss. So wie früher.

Als Schüler saß ich nie im Büro der Direktorin, als Journalist bin ich jetzt hier und höre etwas von MINT-Klassen (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), einer Kinder-Uni für Dritt- und Viertklässler, die im Mai am AVG startete, und dass es hier „Lerncoaching“ gibt. Der Wettbewerb hinterlässt überall seine Spuren: anders sein, besser sein, mehr bieten, attraktiv bleiben. War das zu meiner Zeit auch schon so anstrengend? Ich bin geneigt, an die Gnade der frühen Geburt zu glauben.

Natürlich fallen mir auch andere Änderungen auf: das Solardach auf dem Westtrakt, wo sich immer noch der Musiksaal befindet, der riesige Fahrradparkplatz, der früher eine Wiese war, das Basketballfeld auf dem Schulhof, die Cafeteria im jüngsten Neubau, die deutlich mehr bietet als kalten Kakao, zu meiner Zeit käuflich zu erwerben in einer Holzbude auf dem Schulhof. Und, natürlich gibt es eine Handy-Ordnung, die regelt, wer sein Handy wann und wo benutzen darf. Früher wussten wir bestenfalls, wo die nächste Telefonzelle steht.

Ein Rundgang. In diesem Trakt war ich als Siebtklässler. Latein-Unterricht bei einer Frau, deren Blicke töten konnten und die niemals lachte, zumindest nicht in Gegenwart ihrer Schüler. Wenigstens einmal wollten wir alle klüger sein als diese strenge Lehrerin. Vor einer Lateinarbeit wussten wir alle schon, welchen Text wir zu übersetzen haben würden. Wer selbst bei dieser Frau Lateinunterricht hatte und schon im 8. Schuljahr war, konnte genau sagen, welcher Text in einer Lateinklausur im 7. Schuljahr bei dieser Lehrerin vorkommt. Die Nachhilfe einer Mitschülerin, selbst Schülerin am AVG, hatte das bemerkt. Es sollte ein Pyrrhussieg werden. Es hagelte zwar Einser und Zweier und nicht Dreier und Vierer wie sonst. Die Lehrerin sagte auch kein Wort. Aber schon damals galt: Rache ist süß. In der nächsten Klausur, die nicht mehr vorhersehbar war, hagelte es Fünfer und Sechser, sogar für die guten Lateinschüler.

Ich sitze in dem Klassenzimmer, in dem ich als Neuntklässler unterrichtet wurde. Die dreitägige Klassenfahrt führte uns nach Koblenz, in die Jugendherberge auf die Festung Ehrenbreitstein mit Blick auf Rhein und Mosel. Es sollte die kürzeste Klassenfahrt in der Geschichte der Schule werden. Nach 23 Stunden waren wir wieder zu Hause.

Was geschehen war? Die Mädchen und Jungen hielten sich im gleichen Zimmer auf. Nach Sonnenuntergang. Ohne Erlaubnis der verantwortlichen Lehrerin, die evangelische Religion unterrichtete. Wir hatten nicht einmal geraucht oder Alkohol getrunken. Wir saßen zusammen, tranken Cola, redeten. Zur Strafe wurden wir nicht nur vorzeitig nach Hause geschickt, wir mussten am letzten Tag unserer Klassenfahrt auch zur Schule.

Was in der Erinnerung bleibt? Die feixenden Gesichter der Oberstufenschüler, als sie uns sahen; die bis heute seltsame Frage der eigentlich patenten Englischlehrerin, was wir denn tun, wenn eines der Mädchen schwanger würde; und die Solidarität aller Eltern, die die Reaktion der Lehrerin und der Schule, als das empfanden, was es war: albern.

Was ist aus den Lehrern von früher geworden? Der Englisch-LK-Lehrer ist der Schulleiterin noch gut in Erinnerung als engagierter Kollege, aber mittlerweile im Ruhestand. Der frühere Geschichtslehrer ist verstorben. Der Mann war zwar anstrengend; der einzige Lehrer, der es schaffte, am letzten Schultag konsequent Unterricht zu machen, statt Anekdoten zu erzählen. Aber wie gut und durchdacht sein Unterricht war, bemerkte ich erst an der Uni.

Auch der Physik-LK-Lehrer ist im Ruhestand. Den hatte ich kurz vor meinem Abitur für das Abi-Buch interviewt. Ihm Fragen zu stellen, auf die es keine richtige oder falsche Antwort geben konnte, sondern nur eine spannende oder langweilige, hat viel Spaß gemacht. Dass ich daraus meinen Beruf machen würde, wusste ich damals noch nicht.

Und manche Dinge haben offensichtlich ewig Bestand: Der Laden, in dem wir fast alle unsere Schulhefte kauften, existiert bis heute, an der gleichen Stelle: Schreibwaren Tönnes in der Brückstraße.

 Gastredakteur Stefan Dickmann vor seiner alten Schule, dem Andreas-Vesalius-Gymnasium Wesel.

Gastredakteur Stefan Dickmann vor seiner alten Schule, dem Andreas-Vesalius-Gymnasium Wesel.

Foto: Fritz Schubert

Ein anderer Fixpunkt der Schülerzeit ist dagegen verschwunden: der Popshop an der Goldstraße. Hier gab es die besten Schallplatten in Wesel; nicht nur die in den 80er Jahren populäre Musik, für die man sich heute aus gutem Grund ein bisschen schämen darf, sondern auch die Klassiker, die ewig Bestand haben werden: Beatles, Rolling Stones, Doors. 2008 schloss der Popshop. Leider. Aber Vinyl boomt wieder, so wie das Abi nach neun Jahren Gymnasium wieder in ist. Früher war bestimmt nicht alles besser, aber es war auch nicht alles schlechter.

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