Interview Wolfgang Jung „Der 9. November war das Tor zu Auschwitz“

Wolfgang Jung vom Jüdisch-Christlichen Freundeskreis hat mit unserer Redaktion über die Reichspogromnacht und das heutige Gedenken daran gesprochen.

 Beim Redaktionsbesuch

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Foto: Sebastian Peters

Herr Jung, wir schauen zurück auf den 9. November 1938, auf die sogenannte Reichspogromnacht vor 80 Jahren. Wie sah es in Wesel an diesem Tag aus, wie erging es den Juden hier?

Wolfgang Jung Die jüdische Gemeinde in Wesel war zu diesem Zeitpunkt gar nicht so groß. Die Synagoge lag direkt neben dem Dom, wo sich auch heute das Mahnmal befindet. Sie wurde in dieser Nacht abgebrannt. Die Nazi-Trupps, die in den Städten aktiv wurden, kamen in der Regel aus anderen Städten. In Wesel sollen damals Nazi-Kräfte aus Rees gewütet haben. Man vermutet, dass dies deshalb geschah, weil auf diese Weise persönliche Bezüge zu den Opfern ausgeschlossen werden konnten.

In welcher Form bereitet sich Ihr Jüdisch-Christlicher Freundeskreis in Wesel gesondert auf diesen speziellen Gedenktag vor?

Jung Wir werden den 80. Jahrestag genauso begehen wie in den vergangenen Jahren. Es gibt eine Veranstaltung im Bühnenhaus. Da werden Künstler auftreten, die sich mit dem Thema Verfolgung der Juden im Nazireich sehr intensiv befasst haben. Im Anschluss gibt es den Lichtergang zum Dom, zum Mahnmal. Der 80. Jahrestag ist eingerahmt in eine Erinnerungsarbeit, die in der BRD eingeführt ist seit 1988. Wir begehen diesen Jahrestag in der Form also zum 30. Mal. Wir sind übrigens sehr froh und stolz darauf, dass wir diese Veranstaltung gemeinsam mit der Stadt durchführen. Die Stadt gibt uns im Bühnenhaus die Räumlichkeiten, die Bürgermeisterin übernimmt einen Teil der Begrüßung. Ich bin auch sehr froh, dass Ernest Kolman sein Kommen angekündigt hat. Man muss auch erwähnen, dass die Stadt dem Riga-Komitee beigetreten ist und dass sie bereit ist, als Stadt Gelder zu geben für Jugendprojekte, für Schulprojekte, wenn Klassen Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus besuchen wollen.

Das heißt, mit dem Verschwinden der Zeitzeugen wächst die Pflicht, auf andere Art das Erinnern wach zu halten?

Jung So verstehen wir unsere Arbeit. Es ist wichtig, dass wir mit unserer Erinnerungsarbeit darstellen, welche kulturellen Verluste diese Gesellschaft erlitten hat dadurch, dass die Natis die jüdischen Bürger vertrieben und ermordet hat. Es gab zwei Ziele: Deutschland judenfrei machen und jüdische Kultur auszurotten. Beide Ziele sind nicht gelungen. Wir versuchen mit unserer Arbeit, an die lebendige jüdische Kultur vor 1938 und vor 1945 zu erinnern. Zeitgleich wollen wir auch zeigen, was zurzeit an jüdischer Kultur im Land besteht und wo jüdische Bürger ihre Heimat gefunden haben.

Wie ist es jetzt in Wesel. Leben hier wieder Juden?

Jung Ja, auch in Wesel gibt es einige jüdische Mitbürger, die in der jüdischen Gemeinde in Duisburg mitarbeiten. Sie treten in der Stadt aber nicht in Erscheinung. Der einzige, den man kennt, ist Rainer Hoffmann, der ja Mitglied unseres Vereins ist, der aber schon seit Jahrzehnten hier lebt, Offizier der Bundeswehr war.

Gibt es Hinweise, dass sich dieser widerliche Antisemitismus auch hier in Wesel wieder intensiviert?

Jung Das kann ich so nicht feststellen. Aber es gibt generell in unserem Land noch immer Antisemitismus und wir müssen das im Rahmen der Erinnerungsarbeit immer wieder zum Thema machen. Wir stellen insgesamt in Deutschland fest, dass Antisemitismus wieder um sich greift, dass dieses Thema, wenn nicht in Wesel, dann aber im parlamentarischen Raum seinen Platz gefunden hat. Es wird versucht, dieses Thema wieder gesellschaftsfähig zu machen. Ein Teil deutscher Geschichte wird damit auszuradieren versucht. Dieses Ereignis des Holocaust war ein einmaliges der Geschichte. Wer dieses banalisiert und mit anderen in eine Reihe stellt, den müssen wir im Auge haben. Dagegen versuchen wir mit unserer Arbeit zu kämpfen. Wir reden dabei nicht über Schuld, sondern über Verantwortung, die die Menschen hier haben, die hier leben.

Das ist eine spannende Begriffsdebatte, nicht mehr über Schuld, wohl aber über Verantwortung zu reden. Ist es an der Zeit, den Begriff der Schuld durch den der Verantwortung zu ersetzen? Schülern von heute kann man ja den Schuldbegriff nur noch schwer begreiflich machen.

Jung Das war ja auch der Tenor eines Menschen, der kürzlich im ZDF-Film zu den verschickten jüdischen Kindern zu sehen war. Einer der Protagonisten dort sagte: „Schuld können nur die haben, die älter sind als ich. Die Menschen, mit denen ich heute zu tun habe, haben keine Schuld.“

Berührt das Thema NS-Zeit die Schüler heute noch so wie zu meiner Schulzeit?

Jung Ich sage: Ja. Ich bemerke, dass die Schüler immer noch sehr gut auf dieses Thema vorbereitet sind, sie sich intensiv mit diesem Thema befasst haben, sei es künstlerisch, sei es sprachlich. Sie haben so viele Dinge gelernt, die sie ansonsten in der Schule nicht erlernt hätten. Dafür bin ich den Geschichtslehrern sehr dankbar. Man muss dieses Thema in einer Form präsentieren, dass es die Schüler nicht nur in Form von Jahreszahlen erreicht, sondern auch emotional.

Was sind Ihre Wünsche für den 9. November, bedarf es einer neuen Auseinandersetzung mit der Geschichte an diesem Tag?

Jung Wir haben in Wesel ein Programm, das ich für angemessen halte. Aber man muss sich nichts vormachen. Der Kreis, den wir damit erreichen, ist klein. Wichtig ist für uns, dass dieses Thema lebendig in Schulen bleibt, dass es von Kirchen getragen wird. Dieser Judenhass der Reichspogromnacht war eingebettet. Es hat begonnen mit den Rassegesetzen, mit dem Ausschluss von Menschen, mit Berufsverboten, mit Bücherverbrennungen. Es hat eine Vielzahl von Maßnahmen gegeben, die letzten Endes darauf hingeführt haben, dass Auschwitz geschehen konnte. 1938 war nichts anderes als das Tor zu Auschwitz. Wir müssen also erreichen, dass staatliche Strukturen niemals so sein dürfen, dass so etwas noch einmal passiert. Egal, in welchem Land. Deshalb ist Demokratie, so mühsam sie auch manchmal ist, wichtig.

Sie haben soeben erwähnt, dass die Kirchen an der Erinnerungsarbeit in Wesel beteiligt werden. Wie ist es mit den muslimischen Gemeinden? Sind die auch dabei? Schließlich sind unter den Menschen, die hier als Muslime leben oder kürzlich hierher gekommen sind, auch solche, die in ihrer Heimat mit antisemitischem Gedankengut infiltriert wurden.

Jung Wir würden uns wünschen, dass wir in Wesel einen interreligiösen Dialog verstärkt führen können. Aber das war in den vergangenen Jahren so nicht möglich mit den Weseler Ditib-Moscheen. Das hat auch etwas mit Personalwechseln und Kontinuität der Personen zu tun. Auch die Kirchen wünschen sich diesen Dialog. Es ist wichtig, sich zu sprechen, sich ausztauschen, sich auch zu streiten. Die Antisemiten unter den Muslimen sollen wissen: Es ist bei uns Staatsräson, gegen Antisemitismus zu sein.

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