Wesel Wie „der Texas“ zu seinem Namen kam

Wesel · Erinnerungen an den liberalen Denker Ernst Kapp (1808-1896) und die grünen Refugien der Kaufmannsfamilie Kehl: eine spannende Weseler Familiengeschichte, die ein seltsam klingendes Straßenschild in Obrighoven erklärt.

 24. August 1927: 80. Geburtstag von Albert Kehl (Mitte mit geteiltem Bart, sitzend) vor dem Landhaus Texas, neben ihm seine zweite Frau, sowie Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder

24. August 1927: 80. Geburtstag von Albert Kehl (Mitte mit geteiltem Bart, sitzend) vor dem Landhaus Texas, neben ihm seine zweite Frau, sowie Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Wer verstehen will, wie „der Texas“ in Obrighoven zu seinem Namen kam, der muss genau 210 Jahre zurückblicken und sich mit Ernst Kapp befassen, der auf den ersten Blick wenig mit Wesel zu tun hat. Auf den zweiten aber eine ganze Menge.

Ernst Kapp wurde am 15. Oktober 1808 in Ludwigsstadt in Oberfranken als jüngstes von zwölf Kindern geboren. Im Alter von sechs Jahren verlor er seine Eltern und wuchs bei einem älteren Bruder auf. Er studierte in Bonn Philosophie, Geographie und Geschichte und wurde mit der Dissertation „De re navali Atheniensium“ promoviert. Nach zwei Jahren am Gymnasium in Hamm, das von seinem Bruder Friedrich geleitet wurde, kam Ernst Kapp 1830 als Lehrer (damals „Professor“) an das Gymnasium in Minden. Dort heiratete er 1833 seine Frau Ida, geborene Kapell.

In mehreren Schriften setzte er sich für eine Verbindung des historischen mit dem geografischen Unterricht ein. Die Ereignisse des Revolutionsjahres 1848 müssen seinen liberalen Geist zutiefst erschüttert haben. Mit seiner Schrift „Der constituierte Despotismus und die constitutionelle Freiheit“ veröffentlichte er seine Gedanken zur damaligen politischen Lage. Diese Schrift war offenbar der Anlass, dass er aus dem Schuldienst entfernt wurde. Andere Angebote wollte er wohl nicht annehmen.

   Im Park von Texas ließ Albert Kehl für seine kleineren Kinder und Enkel das sogenannte Bienenhaus bauen, weil die kleinen „Bienchen“ aus- und einflogen.

Im Park von Texas ließ Albert Kehl für seine kleineren Kinder und Enkel das sogenannte Bienenhaus bauen, weil die kleinen „Bienchen“ aus- und einflogen.

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Ernst Kapp beschloss, immerhin schon im Alter von 41 Jahren, mit seiner Familie in die USA auszuwandern. Im Vorwort zu seinem noch vor der Abreise fertiggestellten Buch „Die Heimfahrt des Odysseus – Für die Jugend erzählt“ schrieb er zum Schluss: „Lassen wir darum für jetzt unsere Kinder unter dem sternbesäten Banner der Freien Vereinigten Staaten zu einem kräftigen Geschlecht reifen, dessen gestähltere Nerven dem Kampf um das Höchste mehr gewachsen sind als die unsern! Um der Kinder willen greif’ ich hoffend noch zu Gurt und Stab!“

 Undatiertes Bildnis der jungen „Texanerin“ Ida Elsbeth Kapp-Kehl

Undatiertes Bildnis der jungen „Texanerin“ Ida Elsbeth Kapp-Kehl

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Am 6. Dezember 1849 ging die Familie nach neunwöchiger Reise an Bord der Bark „Franziska“ in Galveston (Texas) an Land. In der Passagierliste der Franziska standen unter anderem Ernst Kapp, seine Frau Ida und fünf Kinder im Alter von drei bis 14 Jahren. Er ließ sich als Farmer in der kleinen Ortschaft Sisterdale nieder. Dort wurde 1851 die Tochter Ida Elsbeth geboren. Mit vielen anderen gebildeten Deutschen („Latein-Bauern“) bildeten sie eine „Vereinigung Freier Männer“. In Sisterdale betrieb Kapp auch, noch vor Kneipp, eine Anlage zur „Wasserkur“. Zusammen mit anderen Deutschen gab er eine deutschsprachige Zeitung heraus. Der liberal gesinnte Kapp und viele andere Deutsche waren nach Texas ausgewandert, um in Freiheit zu leben. Die von den Großgrundbesitzern betriebene Sklaverei musste ihnen völlig zuwider gewesen sein. Sie sprachen sich in Wort und Schrift offen dagegen aus.

 Albert Kehl ließ für seine Frau Ida Elsbeth das Landhaus Texas bauen.

Albert Kehl ließ für seine Frau Ida Elsbeth das Landhaus Texas bauen.

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Damit zogen sie die Feindschaft der Texaner auf sich. Die Zeitung musste verkauft werden. Im amerikanischen Bürgerkrieg fielen viele Deutsche auf Seiten der Nord­staaten. Das Leben der Siedler muss ungemütlich geworden sein.

 Ernst Kapp ging nach Texas, um in Freiheit zu leben. Aber Sklaverei war ihm zuwider. 1865 kam er nach Deutschland zurück.

Ernst Kapp ging nach Texas, um in Freiheit zu leben. Aber Sklaverei war ihm zuwider. 1865 kam er nach Deutschland zurück.

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Im Jahr 1865 kehrte Kapp zu einem Besuch nach Deutschland zurück. Es wird berichtet, dass ihm Ärzte aus gesundheitlichen Gründen von der Rückkehr nach Texas abrieten. Aus einem Brief von Kapps Frau von 1850 wissen wir, dass er bei der Seereise 1849 extrem unter Seekrankheit gelitten hat. Er selbst berichtet auch über die Sommerhitze in Texas. Wir wissen nicht, ob alle seine Kinder mit nach Deutschland kamen.

 Immer wieder eine große Runde vor den Toren Wesels: Die Aufnahme aus dem Jahre 1896 zeigt Familie Kehl 1896, vermutlich vor Gut Ellering.

Immer wieder eine große Runde vor den Toren Wesels: Die Aufnahme aus dem Jahre 1896 zeigt Familie Kehl 1896, vermutlich vor Gut Ellering.

Foto: Hermann Klammer/Fotoarchiv Klammer

Ende der 1980er Jahre lebten noch eine Enkelin und ein Urenkel von Kapps ältester Tochter Antonie in Texas. Auch das Farmhaus in Sisterdale stand zu diesem Zeitpunkt noch. Ernst Kapp lebte bis zu seinem Tod am 31. Januar 1896 als Wissenschaftler und Philosoph in Düsseldorf. Seine Frau Ida starb im Jahre 1891.

Wie aber kam die Straße „Am Texas“ zu ihrem Namen? Für die nachfolgend beschriebenen Fakten gibt es kaum schriftliche Zeugnisse. Ich bin ein Ur-Urenkel von Ernst Kapp, und die Familiengeschichte wurde in mehreren Zweigen unserer Familie bewahrt und jeweils der nachfolgenden Generation überliefert.

Die jüngste, 1851 in Texas geborene Tochter Ida Elsbeth war meine Urgroßmutter. Sie heiratete den wohlhabenden Weseler Kaufmann Albert Kehl. Der besaß die 1808 gegründete Weingroßhandlung „Kehl & Compie“. Außerdem besaß er eine größere Anzahl von verpachteten Bauernhöfen in der Umgebung von Wesel. Es sollen 99 Stück gewesen sein. Wären es 100 gewesen, so hätte er ein Regiment Soldaten unterhalten müssen.

Das Paar bekam drei Kinder: Elsbeth (1875), Toni (1876) und Karl (1878). Ida Elsbeth hatte offenbar gute Erinnerungen an ihre Heimat Texas. Ihr Mann Albert baute für sie am Rande von Wesel das „Landhaus Texas“ in einem mit große Bäumen bestandenen Park, in der Nähe des heutigen Neuen Friedhofes Am Langen Reck. Das Haus Texas existiert noch, wurde aber durch Um- und Anbauten stark verändert. Der Park wurde inzwischen sehr dicht bebaut.

Die Straße „Am Texas“ erinnert an das Landhaus Texas, das aber nicht an dieser Straße, sondern an der Blumenstraße liegt. Die Erfinder der etwas merkwürdigen Bezeichnung „Am Texas“ kannten wohl nicht die Herkunft des Namens. Ida Elsbeth Kapp starb 1882 im Alter von 31 Jahren und hinterließ ihrem Mann die kleinen Kinder. Auf eine erhaltene Fotografie der drei Kinder schrieb Albert handschriftlich „die drei Mutterlosen“.

Er heiratete ein zweites Mal; aus dieser Ehe gingen ebenfalls drei Kinder hervor. Die älteste Tochter Elsbeth heiratete später in Hessen den Bergrat Wilhelm Marx. Das Ehepaar hatte fünf Kinder.

Der älteste Sohn war der spätere langjährige Direktor des Weseler (Jungen-)Gymnasiums (heute Konrad-Duden-Gymnasium), Friedrich Marx. Ein zweiter Sohn, Wilhelm Marx war Direktor eines Gymnasiums in Moers.

Die zweite Tochter Toni, meine Großmutter, heiratete Ludwig Herbig, der von seinem Schwiegervater Albert später die Weingroßhandlung übernahm und sie bis 1945 führte. Das Ehepaar hatte fünf Töchter.

Das Landhaus Texas war für die Enkel von Albert Kehl (darunter meine Mutter) ein beliebter Aufenthaltsort, vor allem im Sommer. Meine Mutter schwärmte davon noch im hohen Alter. Auf Fotografien ist zu sehen, wie die ganze große Familie im Park von Texas versammelt ist. Zuweilen wurden die Enkel im Sommer mit der Pferdekutsche zur Schule in Wesel gefahren, was bei ihnen und den Mitschülern großen Eindruck machte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wohnte die Familie von Pfarrer Hilmar Pardey im Haus Texas. Seine Frau war eine Enkelin von Albert Kehl. Später wurde das Haus verkauft.

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