Erinnerungen an einen besonderen Stadtteil Wie Arm und Reich am alten Hafen lebten

Wesel · Bernd von Blomberg hat mit Teil II des Werks „Wesels Rheinvorstadt vor der Zerstörung 1945" seine Dokumentation über das verschwundene Quartier abgeschlossen. Es ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Stücks Wesel.

 Das vermutlich aus den 1930er Jahren stammende Gemälde zeigt die Fischfabrik Lisner mit wohl übertrieben vielen Schornsteinen.

Das vermutlich aus den 1930er Jahren stammende Gemälde zeigt die Fischfabrik Lisner mit wohl übertrieben vielen Schornsteinen.

Foto: HVDL

Wer schon vor zwei Jahren von den ersten Geschichten rund um die Venloer Straße gefesselt war, der kann jetzt endlich weiterlesen. Bernd von Blomberg hat auch das Gebiet Hafenstraße, Werftstraße, Uferstraße und An der Windmühle unter die Lupe genommen. „Wesels Rheinvorstadt vor der Zerstörung 1945, Teil II“ heißt der reich illustrierte Band, der das Werk über dieses besondere Arbeits- und Wohnquartier vollendet. In der Reihe der „Mitteilungen aus dem Schlossarchiv Diersfordt und vom Niederrhein“ ist es das Heft 22, wobei dies mehr als untertrieben ist.

Ein 320 Seiten dickes „Heft“ darf man gewiss auch Buch nennen. Es ist für 19,50 Euro im Handel (Stadtinformation, Buchhandlung Korn) und wieder einmal ein Muss für Freunde der Weseler Stadtgeschichte und alle, die irgendjemanden in der Verwandschaft haben, der mal da gelebt hat. Das dürften nicht wenige Familien sein. Und alle mit Klang, ob arm oder reich. So geht von Blomberg an verschiedenen Stellen auf das außergewöhnliche Neben- und Miteinander der Menschen in der Rheinvorstadt ein. Der Zusammenhalt überdauerte auch den Nicht-Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Oktober 1961 titelte die Rheinische Post: „Alt-Wesel wurde wieder lebendig - Hunderte Bewohner der ehemaligen Rheinvorstadt trafen sich.“

Jedem Haus und jedem Bewohner hat Bernd von Blomberg (84), vielen als Stadtführer bekannt, nachgespürt. Der Versuch, am Ende auch von jedem Gebäude ein Bild zeigen zu können, ist ihm beinahe gelungen. Unmittelbar nach Vorlage des ersten Bandes war er an die Arbeit des zweiten gegangen, hat alle Bauakten dazu gelesen. Eine weitere Hilfe waren die Adressbücher der Jahre 1876-1936.

Wer weiß, dass Wesels Häuser, ausgehend von der Niederstraße 1, einst nach einem kaum nachzuempfindenden System durchnummeriert wurden und erst 1908 eine Umstellung auf Straßenamen mit Hausnummern erfolgte, der ahnt, was das für eine Arbeit war. Sehen kann man von der Rheinvorstadt an Ort und Stelle heute fast nichts mehr. Der alte Hafen war schon 1927 endgültig zugeschlämmt worden. Auch liegen die Straßen heute etwas anders. Was es noch gibt, das ist das Haus Hafenstraße 6, heute Uferstraße 6. Außerdem erhalten ist die Hafenbatterie. Und die ist etwas ganz Besonderes.

Die Hafenbatterie bewachte als befestigte Geschützstellung einst die Hafeneinfahrt. Wer sie wann erbaute, ist nicht ganz klar. Bernd von Blomberg vermutet, dass es „die Brandenburger“ um 1680/1690 waren. Verbrieft ist, dass es sich um den ältesten, noch erhaltenen profanen Bau der Stadt handelt, der allerlei Wandlungen durchlebte, vom jetzigen Eigentümer Hülskens noch ein Stockwerk hinzubekam. „In dem saß am runden Fenster dann Max Küppers an seinem Schreibtisch“, berichtet Bernd von Blomberg. Interessant ist auch, was in unmittelbarer Nähe der Batterie lag: die Kalberbrücke oder „et Kalverbrücksken“.

Die Holzkonstruktion überbrückte ewige Zeiten den Hafenmund. Damit Schiffe die Engstelle passieren konnten, war sie einst zum Hochklappen nach niederländischer Art ausgerüstet, später ließ sie sich zur Seite wegziehen. Ständig musste was repariert werden. Auch gab es bürgermeisterliche Anordnungen, dass sich keine großen Menschenmengen darauf ansammeln sollen. Ihr Ende kam mit dem Einschlämmen des alten Hafens. „Et Kalverbrücksken“ ist wie kaum ein zweites Bauwerk Sinnbild für den romantischen Charme des alten Hafens, stand mit den kleinen weißen Fischer- und Schifferhäuschen aus der Nachbarschaft Malern und Fotografen gleichermaßen Modell.

Apropos Häuschen: „De Schlötel let in de Dackrinn“, heißt es noch heute beim Anblick winzig-flacher Behausungen. Die haben die Rheinvorstadt ebenso geprägt wie Repräsentationsbauten mit Schmuckfassaden. Ein Beispiel wäre die Villa Grolig. Auch Fabriken gab es. Die von Fischspezialist Lisner etwa. Ein Kapitel für sich ist das Thema Klo-Häuschen und Kanalisation. Die Hafengegend, heute Heimat des Klärwerks, konnte teils erst in den 1930er Jahren an den Kanal angeschlossen werden. Verordnungen, wie die vom Haus separierten Aborte, deren Gruben in Abständen per Schöpfkelle („Ahlschepper“) geleert werden mussten, zu bauen waren, stammen immerhin schon von 1887/1888. Welche Entwicklungshemmnisse das Militär dem sozusagen in der Festung liegenden Stadtviertel aufdrückte und wie die Menschen sich damit arrangierten, wird auch im Band II der Rheinvorstadt-Dokumentation wieder eindrucksvoll deutlich.

 Die Hafenbatterie, gezeichnet von M. Holting 1698, ist außer dem Kran links hier als einziges Gebäude am Hafenmund dokumentiert.

Die Hafenbatterie, gezeichnet von M. Holting 1698, ist außer dem Kran links hier als einziges Gebäude am Hafenmund dokumentiert.

Foto: SAW
 Heute ist die Hafenbatterie, das älteste profane Haus der Stadt, im Besitz des Traditionsunternehmens Hülskens.

Heute ist die Hafenbatterie, das älteste profane Haus der Stadt, im Besitz des Traditionsunternehmens Hülskens.

Foto: Bernd von Blomberg
 Bernd von Blomberg hat jede Bauakte zur Rheinvorstadt gelesen.

Bernd von Blomberg hat jede Bauakte zur Rheinvorstadt gelesen.

Foto: Fritz Schubert
 Hafenstraße 25, 1920er Jahre – Beispiel kurioser Architektur: Die Straße liegt oben hinter den Häusern, unter denen das Gelände abfällt.

Hafenstraße 25, 1920er Jahre – Beispiel kurioser Architektur: Die Straße liegt oben hinter den Häusern, unter denen das Gelände abfällt.

Foto: SAW/Dietrich Krieger
 Die Kalberbrücke mit Hafenbatterie (links) und den typischen kleinen Häuschen auf einer Postkarte vor 1937

Die Kalberbrücke mit Hafenbatterie (links) und den typischen kleinen Häuschen auf einer Postkarte vor 1937

Foto: SAW

Übrigens wäre die Rheinvorstadt über kurz oder lang auch ohne die Zerstörung zum Ende des Zweiten Weltkriegs als Wohnquartier wohl verschwunden. Der aus den 1930er Jahren stammende Baustufenplan der Stadt sah hier Industrie vor. Deshalb durften die Häuser, die schon im Juni 1940 als erste Bomben abbekommen hatten, nicht wieder aufgebaut werden. Nach dem Krieg wurde der bis 1953 befristete Plan dann umgesetzt. Fast alle Gebäude wurden abgebrochen. Wenn sie nicht ohnehin 1945 bombardiert worden waren.

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