Kolumne Wie Geht's, Wesel? Wesel, schöner bist Du geworden

Wesel · Manchmal hilft der Blick von außen: Unser Autor wurde in Wesel geboren, verbrachte Kindheit und Jugend am Niederrhein, zog dann weg, und hat nun erstmals seit Jahren wieder für eine längere Zeit die Fußgängerzone besucht. Er staunt.

 Die Weseler Innenstadt heute. Grüner wirkt es, die Bänke sind neu angeordnet, auch die Bäume geben der Fußgängerzone eine neue Struktur. Und: Man sieht mehr Räder!

Die Weseler Innenstadt heute. Grüner wirkt es, die Bänke sind neu angeordnet, auch die Bäume geben der Fußgängerzone eine neue Struktur. Und: Man sieht mehr Räder!

Foto: Jana Bauch

Wenn Dein Elternhaus in Rees-Haffen steht, wenn Du also in einem Dorf von 1099 Einwohnern und mindestens ebenso vielen Tieren groß geworden bist, dann war Wesel für Dich das New York des Niederrheins. Besser: die Bronx. Wesel war groß, nach Wesel führten viele Buslinien, hier gab es Hochhäuser, zweispurige Straßen, Leuchtreklame, sogar Sexshops. In der Erinnerung war dieses Wesel aber vielerorts auch grau, kaputt, mancherorts: hässlich. Mottobild dieser alten Zeit ist vielleicht die ehemalige Waschbetonfassade des früheren Kaufhof-Gebäudes. Trist! Wenn man also abends rausfuhr aus der Stadt, wenn die Linie 86 den Niederrhein gen Norden tuckerte, dann stellte sich ein Gefühl der Behaglichkeit ein. Gut, dass man hier nicht schlafen muss. Und heute?

Ich bin, was Wesel betrifft, vorbelastet: Vor 39 Jahren verbrachte ich die ersten Nächte meines Lebens hier. An einem kalten Niederrhein-Morgen im Februar 1978 fuhr mein Vater meine Mutter mit dem alten Renault 4 ins Marien-Hospital. Hier kam ich zur Welt, blieb ein paar Tage und beschloss dann, mit meiner Mutter und meinem Vater das Weite zu suchen. In diesem Fall hieß das: 21 Autominuten nördlich groß zu werden. Wesel war fortan die Stadt etlicher Einkaufstouren. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir in der Feldmark nach dem Besuch eines Kinderarztes die erste "Sport Bild" meines Lebens gekauft hat (Es hätte prägendere Lektüre geben können). Wesel war auch deshalb verrucht, weil wir mit unserem kleinen Fußballverein gegen Mannschaften wie SUS Wesel Nord spielen mussten. Heißumkämpfte Spiele waren das und nicht selten endeten sie mit Nickligkeiten. Nach Wesel fuhren wir auch zum Einkaufen. Meinen Kommunionanzug haben wir bei Mensing gekauft, ebenso wie mein erstes Musikalbum: R. E. M., "Out Of Time". Gleich zwei Plattenläden hatte Wesel; und dort fand sich nicht nur die übliche Chartsware. Es gab gleich mehrere Kinos in Wesel, in meiner Jugend eines in der Dudelpassage und eines am Bahnhof. "Forrest Gump" haben wir hier geschaut und der Film dauerte so lange, dass wir Angst hatten, dass kein Bus mehr führe. Ein paar Minuten dachten wir Freunde, wir müssten die Nacht in der Fußgängerzone verbringen. Dann holten uns die Eltern ab.

Einmal in meiner Kindheit musste ich sogar noch mal ein paar Tage in Wesel schlafen. Ich war vorher auf dem Spielplatz von der Rutsche gefallen. Mein gebrochener Arm musste operiert werden. Es waren einige der weniger guten Nächte meines Lebens. Kurzum: Wesel war immer Großstadt, aber lange auch das Gegenteil von schön. Und wie das mit einem Image ist: Du bekommst es nicht aus dem Kopf. So geht es auch anderen: Wenn man heute mit Menschen über Wesel spricht, dann haben sie noch das alte verdammte Bild vor Augen.

Dann kommst Du plötzlich nach 25 Jahren wieder, siehst die Stadt mit offenen Augen, und staunst: Wesel, schöner bist du geworden!

Jetzt also dieser erste Besuch in der Fußgängerzone. Es wurde eine nostalgische Tour, aber auch eine mit vielen Staun-Momenten: Mein Auto parkte ich im Bereich der Apollopassage in einer Seitenstraße und suchte erst einmal minutenlang nach einer Parkuhr, fand aber keine. Würde dieses Wesel mich als Gast tatsächlich empfangen, ohne dass ich an diesem Ort Parkgebühren würde bezahlen sollen? Erstes positives Gefühl. Ich spreche einen Mann mit Hamburger-SV-Kappe an, der mir sagt, dass man an dieser Stelle nicht bezahlen müsse. Als ich ihn nach dem Weg zum neuen Café Extrablatt frage, da sagt er, dass er in die gleiche Richtung liefe. "Kommen Sie aus Wesel?", frage ich, und der Typ sagt mit einigem Stolz, dass er schon lange hier wohne, in Wesel aufgewachsen sei. Ich staune erneut: Dieser Mann steht nicht in Verdacht, zu den oberen Zehntausend zu gehören. Eher der Typ Arbeiter. Von seinem Wesel, dieser kleinen Großstadt am Niederrhein, redet er aber voller Pathos. Würde sich dieses Wesel also verändert haben? Als ich auf die Fußgängerzone zugehe, sehe ich, dass zwar zur linken der Plattenladen in der Apollo-Passage nicht mehr ist (kurz Trauer), dafür sehe ich eine blitzeblanke Einkaufspassage (für das Kaugummiflecken-Gate habe ich da noch kein Auge). So kannte ich diesen Ort nicht. Ich erinnere mich an meinen besten Freund Jens: Er kommt aus Mehrhoog und macht was mit Steinen im Baustoffhandel. Er kennt sich aus mit Pflasterungen. Als ich ihm sagte, dass mich mein Weg nach Wesel führen würde, sagte er, dass Wesel eine tolle Fußgängerzone habe, mit schönen Steinen.

Auf dem Weg am neuen Kaufhof vorbei staune ich erneut: Geradezu mediterran sieht es an diesem sonnigen Tag hier aus, überall Bänke, Spielgelegenheiten für Kinder, Gastronomie. Früher standen wir uns in Fußgängerzonen als Kinder Löcher in den Bauch. Ich staune über eine stattliche Vielfalt an Geschäften und darüber, dass hier an einem normalen Donnerstagmorgen durchaus geschäftiges Treiben herrscht. Man kann auch gefahrlos durch diese Fußgängerzone gehen, weil es im Bereich, wo früher Ampeln standen, mittlerweile einen "Shared Space" gibt, Autos müssen kriechen. Gut so! Sogar ein Café namens "Extrablatt" gibt es hier jetzt, was einen als Zeitungsmacher besonders freut, und der Platz vor dem Willibrordi-Dom, wo ich jetzt arbeite, ist um so vieles schöner als damals, als der Platz noch größer wie öder war. Erkenntnis des Tages: Wesel hat sich "ganz schön gemacht", wie man hier sagt.

Auf meinen journalistischen Stationen am Niederrhein habe ich in den vergangenen Jahren ein spannendes Phänomen entdeckt: den Negativ-Blues. Über ihre Heimatstadt berichten die Menschen unter ihresgleichen immer höchst kritisch. Da wird nur vom Niedergang erzählt, dass doch früher alles besser gewesen sei, dass es hier oder dort schöner war: hübschere Gebäude, mehr nette Menschen, grünere Plätze. Sogar das Wetter soll früher besser gewesen sein. Hören Sie mal zu, wenn Krefelder, Mönchengladbacher, Emmericher unter ihresgleichen über ihre Stadt schimpfen. Und dann gehen Sie als Auswärtiger durch diese Stadt und staunen. Ist es nicht viel besser, als Sie es eben noch gehört haben?

Die Antwort ist wahrscheinlich: Jede Stadt ist schön und hässlich zugleich, selbst Paris und Wien, und Schönheit liegt ja immer im Auge des Betrachters. Na klar, Wesel ist längst nicht überall prächtig. Aber es ist ganz sicher schöner, als viele es von dieser Stadt behaupten. Die Fußgängerzone jedenfalls hat uns an diesem Morgen sehr gefallen. Fast sind wir geneigt zu sagen:

Wesel, es ist schön bei Dir.

(RP)
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