Fußball "Kießling hat sich keinen Gefallen getan"

Wesel · "Phantomtor" beschäftigt auch Trainer und Spieler im Kreis. Sie kritisieren den Schützen und fordern moderne Technik.

Während die Fachsimpler an den Fußball-Stammtischen in Frankreich am vergangenen Wochenende von einem abermaligen Zaubertor von Zlatan Ibrahimovic schwärmen durften, diskutiert Deutschland seit Freitagabend über ein Nicht-Tor. Die vielen Fragen, die der der Treffer, der keiner war, aufwirft, sind so spannend, dass natürlich auch die Fußball-Basis im Kreis Wesel darüber diskutiert: Sollte die Partie zwischen 1899 Hoffenheim und Bayer Leverkusen wiederholt werden? Hat Stefan Kießling einen Moralrüffel verdient? Und wann kommt eigentlich die Torlinien-Technik? Dies sind wohl die wichtigsten Themen.

Roger Rütter ist in der Debatte ein leidenschaftlicher Verfechter des Videobeweises. Denn der Trainer des Oberligisten PSV Wesel hat einen ähnlichen Fall am eigenen Leib erlebt. Im August 2010 erzielte sein Spieler Matthäus Cwiek in der Landesliga-Partie beim Duisburger SV 1900 den Treffer zum 1:1. Doch der Schiedsrichter gab ihn nicht. Im Gegensatz zum Phantom-Tor von Kießling war der Ball damals aber durch ein Loch im Netz hinter den Duisburger Kasten geflogen. Es wäre also ein regulärer Treffer gewesen. "Ich habe gleich nach dem Bundesliga-Spiel so vielen Leuten von diesem Erlebnis erzählt. Natürlich lebt der Fußball von diesen Geschichten. Ich werde es nie vergessen", sagt Rütter.

Zur Szene, die als Phantom-Tor von Sinsheim in die Geschichte der Eliteklasse eingehen wird, hat der PSV-Coach dennoch eine klare Meinung. "Im Fernsehen hat man ganz klar gesehen, dass Stefan Kießling sich unmittelbar nach seinem Kopfball an die Stirn fasst. Ich denke, er wusste, dass der Ball am Tor vorbeigehen würde. Auch die Mitspieler müssen das gesehen haben. Sie hätten es zugeben müssen."

Unterstützung erhält Roger Rütter von Raik Wittig. Der Angreifer von Bezirksligist BW Dingden ist selbst ein Vollblut-Stürmer und hat in dieser Spielzeit bereits zwölf Treffer für seinen Club erzielt. "Als Spieler, insbesondere als Stürmer, hast du ein Gefühl dafür, ob ein Ball im Tor landet oder nicht. Ich bin mir auch sicher, dass Kießling es sofort realisiert hat. Er hat sich mit seinem Verhalten keinen Gefallen getan. Gerade jetzt, wo er wieder ein Thema für die Nationalelf geworden ist", meint Wittig. Was er selbst allerdings in solch einer Situation tun würde, kann auch der Dingdener Angreifer nicht zu einhundert Prozent sagen. "Man weiß es nicht. Wenn es um eine Meisterschaft geht, überlegst du es dir vielleicht. Aber in der Fußball-Bundesliga wird alles mit Fernsehkameras festgehalten. Es kommt also sowieso raus."

Christoph Schlebach, Trainer des Westfalenligisten SV Schermbeck, nimmt den vermeintlichen Buhmann in Schutz. "Ich mache Stefan Kießling keinen großen Vorwurf. Er köpft, dreht sich ab und sieht danach den Ball im Netz. Außerdem stürmen sofort all seine Mitspieler auf ihn zu und beglückwünschen ihn. Da denkst du als Spieler nicht sofort daran, dass dort ein Loch im Netz war. Als der Schiedsrichter anschließend das Gespräch mit ihm gesucht hat, hätte er in meinen Augen aber ehrlich antworten sollen. Sprich, dass der Ball wohl eher nicht drin war."

Dass Schiedsrichter Dr. Felix Brych keinerlei Schuld trifft, darin sind sich alle Parteien einig, auch wenn Roger Rütter sich ein wenig mehr Courage in der Gilde der Unparteiischen wünschen würde. "Natürlich darf er es nicht. Aber stellen wir uns einmal vor, er hätte sich die eindeutigen TV-Bilder kurz am Spielfeldrand angesehen und daraufhin auf Abstoß entschieden. Er hätte damit ein Zeichen gesetzt und wäre wahrscheinlich von den Zuschauern gefeiert worden." Mit Sicherheit. Doch warum der Referee das nicht darf, erklärt ihm der Kreis-Schiedsrichter-Obmann. "Der Schiedsrichter muss nach seinen eigenen Wahrnehmungen entscheiden. Selbst wenn er eine Wiederholung auf einem Videowürfel sieht, darf er seine Ansicht nicht mehr ändern", sagt Norbert Brunnstein.

Er ist einer der wenigen, die dem Vorfall etwas Positives abgewinnen können. "Für mich als Lehrwart ist die Szene praktisch ein Segen. Wenn ich unsere Schiedsrichter demnächst darauf hinweise, wie wichtig das Kontrollieren der Tornetze ist, kann mich niemand mehr belächeln. Das gilt übrigens auch für die Vereine, die ihre Tornetze ebenfalls ab und an überprüfen müssen."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort