Weseler Verein hilt beim Neustart Suchtkranke Mutter feiert Weihnachten mit ihren Kindern

Wesel · Die zweifache Mutter Inga L. (44) lebte suchtkrank in einer Ruhrgebietsstadt. In der Einrichtung Haus Alia des Weseler Trägervereins Spix fand sie neuen Lebensmut. Seit wenigen Wochen lebt sie wieder eigenständig - und feiert nun Weihnachten mit beiden Kindern.

Über die Vergangenheit will Inga L. eigentlich am liebsten so gut wie keine Worte verlieren. Manchmal liegt die Zeit noch wie ein Grauschleier über ihrem Leben. Da sind Personen, mit denen sie keinen Kontakt mehr haben will, die auch nicht erfahren sollen, wo sie heute lebt, wie es hier heute geht. Inga L. ist 44 Jahre alt, und einen Teil ihres Lebens hat sie in einer großen Ruhrgebietsstadt im Milieu verbracht.

"Da waren viele Menschen, die mir nicht gutgetan haben." Suchtkrank war sie, wurde Borderline-Patientin, mit heftigsten Stimmungs- und Gefühlsschwankungen. Drei Prozent der Bevölkerung leiden an dieser Krankheit - bei Inga L. war die Situation auch deshalb besonders dramatisch, weil sie zwei Kinder hat. "Sie sind mein ein und alles", sagt Inga L.. Und doch ging es vor vier Jahren nicht mehr. Die Geschwister wurden an eine Pflegemutter gegeben. Das, was ihr Rettungsanker war, ihre tägliche Verpflichtung, fehlte plötzlich. Inga L. sackte danach immer tiefer ab.

Vor drei Jahren war es, am 7. November 2014, als das Leben von Inga L. eine entscheidende Wende nahm. Es war eine Wendung zum Guten. Heute, in der Rückschau, darf man das so bilanzieren. Im Internet erfuhr Inga L. vom Weseler Verein Spix, der sich um psychisch Kranke kümmert. "Die Entscheidung, hier ein neues Leben zu starten, war genau richtig", sagt die Frau. Für Wesel entschied sie sich, weil ihre beiden Kinder hier in einer Pflegefamilie aufwachsen. Inga L. wollte Schritt für Schritt wieder mehr Kontakt. Ihr großes Ziel: wieder eine Familie mit den beiden Kindern sein.

Franz Niederstrasser ist Teamleiter in der Spix-Einrichtung Haus Alia an der Salzwedeler Straße. Er hat viele Klienten hier begleitet, viele Suchterkrankungen beobachtet. Einen Fall wie Inga L. gebe es nur selten, sagt Niederstrasser. Eine intelligente Frau, die sich so ins Leben zurückkämpft, die ihr Ziel so vor Augen hat. "Es gab natürlich auch Rückschläge", sagt der Spix-Mitarbeiter ganz offen. Nun sei es Inga L. aber gelungen, auf eigenen Beinen zu stehen.

Das Haus Alia war in Wesel in den vergangenen Wochen in den Schlagzeilen. Spix plant hier eine Erweiterung. Der Bedarf für Einrichtungen wie diese, in der Menschen untergebracht sind, die auch schon mal ihre Zeit im eigenen Appartement brauchen, für die eine dauerhafte Gruppensituation nichts ist, steigt. Niederstrasser sagt: "Es handelt sich um Menschen, die eine Suchtproblematik haben, die zum Teil auch auf der Straße lebten. Das sind Menschen, die in unser Stammhaus nicht passen, die ein Misstrauen gegenüber großen Einrichtungen haben."

Für sie wurde im Jahr 2000 das Haus Alia geschaffen. Sechs Bewohner leben hier in einem großen Einfamilienhaus, mit eigenem Appartement. Nachbarn äußerten die Befürchtung, dass es im Zuge der Erweiterung zu mehr gefährlichen Situationen kommen könne, weil mehr Suchtkranke auch ein höheres Risiko für die Anwohner sind. Niederstrasser sagt: "Wir haben mit einer Aufklärungsveranstaltung reagiert, wie wir es auch zu Beginn der Zeit hier schon gemacht haben." Letztlich habe es noch nie gefährliche Aktionen gegen Nachbarn gegeben. Wenn Streit entstehe, dann höchstens unter den Bewohnern. "Das ist ganz normal", sagt der Pädagoge.

Nur Gutes kann Inga L. über das Haus Alia berichten. "Die Einrichtung ist sauber und gepflegt. Das Zusammenleben mit der Nachbarschaft ist gut. Man kennt sich und respektiert sich." Da komme es wie unter normalen Nachbarn auch vor, dass man füreinander die Pakete annimmt. Gewalt oder gefährliche Situationen habe sie im Haus nie erlebt. "Ganz im Ernst, bei manchen Menschen, mit denen ich jetzt in Wesel in einem Mehrfamilienhaus zusammenlebe, habe ich mehr Ängste als hier."

Wer mit Inga L. spricht, der spürt einerseits ihre Zufriedenheit darüber, das Leben langsam selbst zu meistern. Andererseits ist da natürlich ihre eigene Lebensgeschichte, die man nicht so einfach abschüttelt. Mehrere Einrichtungen habe sie in den vergangenen drei Jahren besucht. Im Haus Alia an der Salzwedeler Straße sei es ihr gelungen, Fuß zu fassen im Leben.

So klar wie derzeit hat Inga L. das Ziel nie vor Augen gehabt: Sie hat die Sucht überwunden, hat ihre Medikamente erst reduziert, dann sogar komplett abgesetzt, lebt jetzt alleine in einer Wohnung in Wesel-Obrighoven. Viel Zeit investiert sie in die Einrichtung des neuen Zuhauses. "Ich bin sehr harmoniebedürftig, möchte es schön haben." Dann schaut sie doch mal auf sich als frühere Person zurück. "Ich habe es mir früher auch schon immer schön zu Hause gemacht."

Parallel arbeitet sie für Spix im Friedhofsladen an der Caspar-Bauer-Straße. Der Job verschaffe ihr Zufriedenheit, sagt Inga L.. Die 44-Jährige will aber mehr: "Ein großes Ziel ist es, endlich wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig werden zu können." Sie will eigenes Geld verdienen, nicht in "Maßnahmen" unterkommen. "Ich will in den Spiegel schauen können. Arbeit macht mich gesund." Sie will endlich eine Normale unter Normalen sein, zufrieden spazieren gehen, sich an der Natur erfreuen. "Je gesünder ich werde, desto mehr lerne ich das Leben schätzen."

Franz Niederstrasser ist glücklich über die Entwicklung. Er weiß, dass es bei seinen Klienten immer auch Risiken gibt, dass jedes Verlassen des geschützten Raumes ein Wagnis darstellt. Und doch sagt Strasser: "Wir motivieren die Leute an einem bestimmten Punkt, den nächsten Schritt zu gehen, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Wichtig sei dabei, dass es eine feste Einbindung in eine Tagesstruktur gibt, dass Aufgaben auf die Klienten warten.

Inga L. weiß, dass alles nicht so schnell geht, wie sie sich es wünschen würde. Deshalb hat sie für sich einen klaren Entschluss gefasst. In "Gänsefüßchenschritten" wolle sie weitergehen, keine großen Sprünge machen. "Sonst nämlich ist die Gefahr, rückfällig zu werden, zu groß."

Zum Abschluss des Besuchs noch eine Frage an Inga L.: Wann sind Sie glücklich? Wenn ich mit meinen Kindern zusammen bin", sagt sie, wie aus der Pistole geschossen. Ihre Augen beginnen dabei zu funkeln. Es gebe ein großes Nahziel. Sie will mit ihren beiden Kindern alle Weihnachtstage verbringen. Der Kontakt zu ihren Kindern sei eng. "Wir telefonieren regelmäßig abends miteinander, und jedes Mal zum Ende des Telefongesprächs beten wir zusammen."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort