Schätze des Niederrheinmuseums Prinz und Page

Wesel · Wer sich dem Jugendkonflikt Friedrichs des Großen (1712-1786) mit seinem Vater nähert, stößt unweigerlich auf den Namen Wesel. In der Festungsstadt – Preußens stärkstem Bollwerk in seinen westlichen Gebieten – wurde der Kronprinz nach einem gescheitertem Fluchtversuch inhaftiert und Verhören unterzogen.

 Hans Hermann von Katte mit seiner Schwester beim Konzert. Beide teilten die Leidenschaft Friedrichs für das Flötenspiel. Öl auf Leinwand, um 1728, Privatbesitz

Hans Hermann von Katte mit seiner Schwester beim Konzert. Beide teilten die Leidenschaft Friedrichs für das Flötenspiel. Öl auf Leinwand, um 1728, Privatbesitz

Foto: LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Am Tage der Ankunft von König und Kronprinz in Wesel, am 12. August 1730, fallen die Würfel für eine ausgesprochen harte Behandlung des Thronfolgers und seines Mitverschwörers Katte, die für diesen sogar zum Tode führen wird. Gleichzeitig gelingt aber von Wesel aus die einzig erfolgreiche Flucht in dieser Familien- und Staatsaffäre. So führt den früheren Pagen Friedrichs und Weseler Leutnant Peter von Keith ein abenteuerlicher Ritt nach Holland, während ihm ein Häscherkommando der Garnison Wesel auf den Fersen ist. An der holländischen Küste wird es dem desertierten Leutnant gelingen, sich nach England einzuschiffen.

Diese dramatischen Vorgänge waren weit mehr als nur ein Familienkonflikt. Hier standen sich das auf Dienst und Arbeit gerichtete pietistische Erziehungsideal des Königs und die geistig-musischen Vorlieben des Kronprinzen für die französische Kultur gegenüber, die dem König gründlich verhasst war.

Daneben weist diese Auseinandersetzung auch auf den tiefen Graben zwischen dem neuen Sozialmodell des Königs und einem unangepassten Flügel des preußischen Adels, für den noch die in Westeuropa verbindliche ältere Adelsfreiheit und ihre kulturellen Ausdrucksformen galten. In genau diesen Kreisen suchte sich der Kronprinz nun seine Freunde und Mitverschwörer: Verbindungen, die auch an den preußischen Niederrhein führten. Den König, dem diese Gemengelage bewusst war, wird sie zu härtesten Maßnahmen veranlassen.

Der Kronprinz versucht sich früh, seine eigene Gegenwelt in den Künsten und der Literatur einzurichten. Den „kleinen Dienst“, mit dem sein Vater Preußen groß machen will, verabscheut er, passt sich oberflächlich an, um insgeheim über den König und seine Prinzipien zu triumphieren. Ein Meister der Verstellungskunst, den der Vater freilich durchschaut. Friedrich Wilhelm I., der ihn öffentlich demütigt und züchtigt, schreibt ihm im Dezember 1728: „Sein eigensinniger böser Kopf, der nicht seinen Vater liebet; denn wenn man nun Alles thut, absonderlich seinen Vater liebet, so thut man, was er haben will, nicht wenn er dabei steht, sondern wenn er nicht Alles sieht.“

 Kronprinz Friedrich mit Schwarzem und Weißem Adlerorden

Kronprinz Friedrich mit Schwarzem und Weißem Adlerorden

Foto: LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Friedrich fiel es nicht schwer, junge Offiziere an sich zu binden. Dem charmanten Kronprinzen mit seiner Liebenswürdigkeit, seiner Eloquenz, seinem sprühenden Geist und seinen musischen Talenten flogen die Herzen zu. Viele Indizien lassen den Schluss zu, dass der intime Kreis um den Kronprinzen einer traditionellen Adelskultur anhing, die sich weniger durch den Dienst als durch die großen Gesten luxuriöser und künstlerischer Selbstdarstellung definierte.

So zählten zu Friedrichs Vertrauten der Leutnant im Königsregiment (Nr. 6) Ludwig Friedrich Felix von Borcke und dessen Bruder Friedrich Wilhelm von Borcke, der als Präsident der Kammern in Minden und Kleve amtierte. 1736 hatte er Schloss Hueth bei Rees erworben und diesen Herrensitz mit den erlesensten Kunstwerken ausgestattet. Hier befand sich auch ein aufschlussreiches Porträt des Kronprinzen, das seine dem König entgegengesetzte Geisteshaltung verriet. Friedrich hatte es seinem Intimus Ludwig Friedrich Felix von Borcke verehrt. Entstanden war es nach dem Aufenthalt von König und Kronprinz am verführerischen Hof Augusts des Starken in Dresden (1728).

Hier verfiel der Kronprinz – im Gegensatz zu seinem strengen Vater – der leichtlebigen Dresdener Hofkultur und wohl auch den Reizen der Gräfin Orczelska, Mätresse und Tochter König Augusts. Der sächsische Kurfürst und König von Polen verlieh seinem gelehrigen Schüler aus Preußen anlässlich dieses Besuches den Weißen Adlerorden, den höchsten Orden Polens. So trägt der Kronprinz auf dem bewussten Porträt das blaue Band dieses Ordens, aber völlig unpassend mit dem Bruststern des höchsten Orden Preußens vereint. Auf diese Weise entstand eine Art Sehnsuchtsbild, das die Hoffnung auf eine künftige kulturelle Wende in Preußen ausdrückte.

Der fluchtwillige, aber stark kontrollierte Prinz bedurfte der Zuarbeit zuverlässiger Fluchthelfer. Friedrichs nachweislich erster Vertrauter seiner Fluchtpläne, der wie er die Flöte spielte, war der aus Hinterpommern stammende königliche Page Peter Christoph Karl von Keith (1711-1756). Seit November 1729 wirkte Keith an der Fluchtplanung des Kronprinzen mit. Zu dieser Zeit wurde ein niederrheinischer Adelsspross miteinbezogen: Leutnant Alexander Sweder von Spaen vom Königsregiment (Nr. 6) erhielt so den Auftrag, einen Reisewagen in Leipzig zu besorgen. Der von Schloss Ringenberg stammende von Spaen gehörte einer hochrangigen ostwestfälisch-niederrheinischen Adelsfamilie an, die unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft in der klevischen Landesverwaltung und im Militär bereits zu höchsten Ämtern aufgestiegen war. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch Friedrichs verurteilte ihn das Kriegsgericht in Köpenick 1730 zu Kassation (Entlassung) und dreijähriger Festungshaft. Spaen nahm dann Dienste in den Niederlanden und sollte es hier noch zum General bringen.

Dem König blieb die enge Beziehung seines Sohnes zu Keith nicht verborgen. Er versetzte ihn so im Januar 1730 in das entfernte Wesel: in das Füsilierregiment (Nr. 31) des Obersten von Dossow. Den Oberst wies er an, Keith „brav scharff halten und darauf (zu) sehen, daß er sein Devoir thue.“ Die Strafversetzung erzielte freilich nicht den vom König gewünschten Erfolg. Keith blieb weiterhin in die Fluchtpläne Friedrichs eingebunden, wie wir noch sehen werden.

Kommen wir nun zum bekanntesten „Freund“ des Kronprinzen in dieser Affäre: Hans Hermann von Katte (1704-1730). Der Leutnant der hochrangigsten preußischen Kavallerieeinheit, dem Gardekürassier-Regiment der Gens d’armes, scheint nach der Versetzung ­Keiths in die Weseler Garnison dessen Platz bei Friedrich eingenommen zu haben.

Die Gens d’armes waren aus dem Personal der 1713 aufgelösten luxuriösen Palastgarden des ersten Preußenkönigs hervorgegangen und etwas vom Glanz der früheren Königsherrlichkeit und des alten Adelsstolzes schien noch auf dieser Truppe zu ruhen, auch wenn ihr Chef nunmehr der gestrenge sparsame Soldatenkönig war. „Verschwendungslust und Tollkühnheit“, „Mut und Übermut“ prägten nach Theodor Fontane ihr Offizierskorps. Hans Hermann von Katte, dem die Ausbildung im pietistisch geprägten Pädagogium August Hermann Franckes wenig geschmeckt hatte, verkörperte ganz den weltläufigen Offizier und Draufgänger.

In Franckes Hallenser Anstalt bescheinigte man Hans Hermann: „Katt incliniret eher zu Poeterey und Träumerey“ und „Katt ist in allen seinen Dingen nicht genugsam erwecket.“ Auch das Urteil seines Regimentskommandeurs: „Sans reproche scheint er mir nur zu Pferd oder mit der Flûte traversière“ lässt erkennen, dass die Perfektion des kleinen Dienstes, die der König seinen Offizieren abverlangte, bei Katte wenig Gegenliebe fand. Kattes musisches Talent, seine Lebenslust und seine familiären Verbindungen, die bis nach Paris, Madrid und an den englischen Hof reichten, prädestinierten ihn geradezu zum Gefährten des Kronprinzen, den dieser Lebensstil beeindruckte.

Neue Misshandlungen und Demütigungen durch den König ließen Friedrich schließlich die Flucht als einzigen Ausweg erscheinen, um Ehre und Selbstachtung zu bewahren. Fritz beabsichtigte über Holland – zeitweise auch über Frankreich – nach England zu entweichen. Der englische Gesandschaftsattaché am Berliner Hof gab ihm jedoch zu verstehen, dass ein flüchtiger preußischer Kronprinz in England nicht willkommen sei und er sein Fluchtvorhaben aufgeben solle. Allerdings trafen von französischer Seite positivere Signale für ein Asyl ein, so dass es Friedrich ratsamer erschien, vorerst in Frankreich Quartier zu nehmen.

Die Gelegenheit zur Flucht schien bald darauf eine Reise des Königs mit dem Thronfolger samt Entourage nach Süd- und Westdeutschland zu geben. Friedrich weihte Katte ein, der riet freilich ab, willigte aber schließlich ein, um seinem Prinzen beizustehen. Kattes Empfehlung, sich von Holland aus nach England einzuschiffen, ohne den Umweg über Frankreich zu nehmen, griff der Kronprinz auf.

Der Fluchtversuch Friedrichs aus dem königlichen Reiselager in Steinsfurt , nahe Sinsheim, am 5. August 1730 scheiterte an der Wachsamkeit des königlichen Begleitpersonals. Noch schien freilich trotz der deutlichen Zeichen des königlichen Missfallens die väterliche Gnade möglich. Auf der Rückreise wandte sich Friedrich drei Tage später in Bonn an den österreichischen Gesandten Graf Seckendorff, der in seinem Reisejournal „des königs üblen Humor und des cronprintzens Angst und inquitude“ festhielt. Reichsgraf Friedrich Heinrich von Seckendorff operierte sehr geschickt im Sinne der österreichischen Politik am preußischen Hof und besaß als Waffengefährte Friedrich Wilhelms I. bei der Eroberung Stralsunds das Herz des Königs.

Friedrich flehte Seckendorff an, den König um Pardon zu bitten. Der Diplomat drückte zwar seine Hoffnung aus, der König würde sich gnädig erweisen, wenn der Prinz alles offen eingestehe, machte aber unmissverständlich klar, dass die Fluchthelfer eine harte Strafe erwarte. Friedrich erschrak und bekannte Seckendorff, er wolle gern sein Leben verlieren, wenn nur Katte nichts geschehe, er habe ihn ja überredet. Seckendorff und die Offiziere aus der Reisesuite des Kronprinzen rieten dem Kronprinzen nun, den König in einem demütigen Schreiben um Gnade zu bitten und hier eine vollständige Aufklärung zu versprechen. Friedrich folgte diesem Rat wohl nicht, während Seckendorff dessen Wunsch erfüllte und in Moers am 12. August für den Kronprinzen eintrat. Der König versicherte daraufhin, er würde Gnade vor Recht ergehen lassen, wenn Friedrich die Wahrheit sage.

In Moers inspizierte Friedrich Wilhelm die hier stehende Invalidenkompanie und eilte noch gleichen Tags nach Geldern. Hier wohnte er selbst einer Messe der Augustinermönche bei, für die er eigens den Bischof von Roermond bestellt hatte. Nach der Revue des Garnisonbataillons unter dem Kommando des Generalmajors von Roeseler erreichte den König noch vor dem Mittagsmahl im Hause des Generalmajors eine Nachricht, die alles verändern sollte. Aus Wesel wurde der Abgang eines Offiziers gemeldet: Peter von Keith sei am 6. August von seinem Regiment desertiert. Der König, der um die besondere Beziehung Keiths zu seinem Sohn Fritz wusste, erkannte nun, dass die Fäden, die der Kronprinz gesponnen hatte, ausreichten, die Bindekraft des Eides auf den königlichen Kriegsherrn zu lösen. Aus dem Familienzwist war nun ganz offensichtlich eine Offiziersverschwörung, womöglich eine Staatsaffäre geworden.

Friedrich Wilhelm reagierte und gab drei Offizieren die Order, den Kronprinzen in eine Kutsche zu setzen und ihn bis an die Schiffsbrücke bei Büderich zu begleiten. Dort habe man zu warten, bis er nachkäme. Selbst den Braten hatte der Kronprinz stehen zu lassen, der gerade im Hause Roeseler aufgetragen worden war. Die Geste war unmissverständlich: Der Vater hatte ihm die Tischgemeinschaft aufgekündigt. Am Rheinufer bei Büderich vergingen Stunden, die der Prinz sicher mit bangen Gedanken zubrachte, ehe der König eintraf. Bei einbrechender Dunkelheit setzte man in Richtung Wesel über den Rhein.

Der Autor Veit Veltzke ist Leiter des LVR-Niederrheinmuseums in Wesel. Regelmäßig schreibt er über „Schätze des Museums“. Teil zwei zu Veltzkes Beitrag „Prinz und Page“ folgt.

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