Wesel Lichtergang und Bühnenstück

Wesel · "Hier öffnen die Toten den Lebenden die Augen." Mit einem Zitat des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog anlässlich seines Besuches in Auschwitz zum 50. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers 1995 begann Bürgermeisterin Ulrike Westkamp ihre Ansprache zum Gedenken an die Reichspogromnacht von 1938. Die Stadt und der Jüdisch-Christliche Freundeskreis hatten ins Bühnenhaus eingeladen, um an die Gräuel zu erinnern, die auch in Wesel an jüdischen Mitbürgern begangen wurden. Die Dimensionen des Leidens und die unvorstellbare Brutalität des Völkermordes seien nur an einem Ort wie Auschwitz spürbar, so Westkamp. Die Pogromnacht habe eine Welle der Gewalt in Gang gesetzt, der die Mehrheit der Bevölkerung mit Schweigen oder gar Beifall begegnete.

Briefwechsel mit Max

Die Zeitzeugen schwinden. Deshalb, so Westkamp, sei es von größter Bedeutung, an das Leiden, die Einsamkeit und Verzweiflung der Menschen zu erinnern, die ihr Leben und ihre Zukunft verloren haben. Damit verbunden sei das Eintreten für "eine Gesellschaft, in der Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung keinen Platz finden." Auch Wolfgang Jung, Vorsitzender des Jüdisch-Christlichen Freundeskreises, begrüßte die Gäste, darunter den Ehrenvorsitzenden des JCF, Günter Faßbender. Im Zentrum des Gedenkens stand die Inszenierung des Theaterstückes "Empfänger unbekannt" von Katherine Kressmann-Taylor. In Form eines Briefwechsels wurde die Geschichte der Freunde Martin und Max, der jüdischer Herkunft ist, erzählt. Beide betreiben eine Galerie in den USA, bis sich Martin Anfang der 30er Jahre entschließt, nach Deutschland zurückzukehren und dort unter den Einfluss der Nazi-Ideologie gerät. Jürg Löw und Harald Gieche lasen die Briefe an Pulten stehend. Allein mit ihren Stimmen und durch Körpersprache schufen sie eine Atmosphäre von Vertraulichkeit und Freundschaft, die schließlich in Distanz, Ablehnung und Furcht umschlug.

Helena Rüegg begleitete die Schauspieler auf dem Bandoneon und unterstrich die Stimmungen musikalisch. Das Stück machte bedrückend deutlich, wie ein als liberal geltender, gerechtigkeitsliebender Mensch den Ideen des Nationalsozialmus verfiel – bis zur letzten grausamen Konsequenz.

(RP)
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