Wesel Kritikerin für einen Abend

Wesel · Im Café Minchen leisten zwölf lesebegeisterte Frauen einmal im Monat intensive Textarbeit. Oft sind es Kurzgeschichten, in die sich der Kreis aus Spaß an der Literatur vertieft. Zuerst wird zitiert, dann diskutiert.

Schwere Kost gab's jetzt beim Literaturkreis im Café Minchen. Ilse Aichingers "Spiegelbild" forderte von den zwölf engagierten Leserinnen intensive Textarbeit. Gut zwei Stunden tauchten sie in das Labyrinth ein, das die österreichische Nachkriegsautorin vielschichtig aufgebaut hat. Gemeinsam bemühten sie sich, das komplex-wirre Netz der Erzählung aufzulösen. "Seit gut viereinhalb Jahren treffen wir uns schon", berichtete Elke Weil, eine der drei Moderatorinnen der Gruppe. Zusammen mit Simone Jenkner und Silke Wohlenhaus bereitet sie die monatlichen Sitzungen vor. Das Trio wählt die Texte aus, stellt erste Fragen zu den Werken.

Aus Mehrhoog, Voerde und Bislich

"Wir beschäftigen uns mit Kurzgeschichten – meistens von Frauen verfasst", erklärt Weil. "Dabei gehen wir zurück bis zu Beginn des letzten Jahrhunderts, hatten aber auch schon neuere Geschichten." Aus Wesel und Mehrhoog, Voerde und Bislich kommen die interessierten Damen, um sich gemeinsam der Literatur zu widmen. "Was will der Autor uns damit sagen – das ist unsere Leitfrage", so Elke Weil. "Uns allen gemeinsam ist dabei der Spaß an der Literatur." In der gemütlichen Atmosphäre vom Café Minchen können sich die Frauen auf dem Sofa und alten Stühlen niederlassen, bei süßem Gebäck und heißem Kakao tauchen sie in den Text ein. Dabei lieferte Ilse Aichinger diesmal durchaus Stoff für Diskussionen. Mit der "Spiegelgeschichte" legt sie den Rückblick einer Verstorbenen auf ihr Leben vor: "Wenn einer dein Bett aus dem Saal schiebt, wenn du siehst, daß der Himmel grün wird, und wenn du dem Vikar die Leichenrede ersparen willst . . ." In einzelne Sequenzen folgten die Rezipienten dem Erzähler rückwärts gerichtet, entgegen der chronologischen Reihenfolge, vom Sarg übers Krankenhaus, Abtreibung und Liebesbeziehung hin zu Jugend, Kindheit – schließlich bis zur Geburt. Die beinahe trivial erscheinenden Schlaglichter eines Lebens wurden beleuchtet, in Zusammenhang gesetzt.

Keine leichte Aufgabe: In den verworrenen Strukturen, der düsteren Stimmung erinnerte die Kurzgeschichte an Franz Kafka, die großen Themen der Menschheit wie Freiheit und Determination, Schicksal und Tod, Liebe und Verlust fanden ihren Platz. Durch die historische Einordnung konnten die Leserinnen eine sozialgeschichtliche Deutung vornehmen. 1951 erschienen, ist die Erzählung deutlich in dieser Zeit verhaftet. Der Moralkodex vergangener Jahrzehnte musste in die heutige Zeit transportiert werden.

Und auch, wenn die Köpfe rauchten und viele offene Punkte geklärt werden konnte – am Ende blieb doch manches Fragezeichen übrig.

(RP)
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