Wesel Bismarcks politische Bühne

Wesel · Neue Ausstellung im Weseler Preußen-Museum: Die vermutlich frühesten Lichtbilder aus einem deutschen Parlament sind ab morgen als hochwertige Fotoreproduktionen zu sehen. Es sind einzigartige Dokumente.

Im Zeitalter von Fernsehen und Rundfunk gehören Live-Übertragungen aus dem Bundestag zum Alltag. Im deutschen Kaiserreich war dem Normalbürger der Blick ins Parlament verwehrt. Wie es bei den Debatten zuging, ließen Berichte in den damals noch kaum bebilderten Zeitungen nur erahnen. Mit seiner schweren Plattenkamera schuf der Berliner „Hof-Photograph“ Julius Braatz im April und Mai 1889 ein historisches Dokument sondergleichen. In einer Fotoserie mit dem Titel „Der deutsche Reichstag und sein Heim“ lichtete er die parlamentarischen Institutionen der Parteien, Fraktionen und Gruppierungen, den Parlamentsalltag und das Interieur des ehemaligen Reichstags-Gebäudes an der Leipziger Straße in Berlin ab.

Politik im „Provisorium“

Diese vermutlich frühesten reportageähnlichen Lichtbilder aus einem Parlament sind ab morgen als hochwertige Fotoreproduktionen im Preußen-Museum zu sehen. Die Ausstellung „Bismarcks Reichstag“ wurde von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien konzipiert und war seit der Eröffnung im Deutschen Bundestag 2002 bereits in zahlreichen Landtagen und Staatsarchiven sowie an historischen Gedenkstätten zu sehen. Bevor das heutige Reichstagsgebäude, der „Wallot-Bau“ in Berlin zum zentralen Ort deutscher Parlamentsgeschichte in der Weimarer Republik und wieder im 21. Jahrhundert wurde, tagte das Parlament von 1871 bis 1894 in der Leipziger Straße 4. Dieses „Provisorium“ wurde nach dem Neubau am Königsplatz abgerissen. Später wurde am Standort das preußische Herrenhaus errichtet, in dem sich heute der Bundesrat befindet. Die Fotografien von Julius Braatz geben den Blick frei auf die politische Bühne seiner Zeit und ihre Akteure, darunter bekannte Namen wie Lasker, Richter, Windthorst, Bebel, Liebknecht und Bismarck.

„Die Fotoserie ist auch deshalb ein besonderes historisches Dokument, weil sie Bismarcks letzten Auftritt im Reichstag zeigt. Braatz hat hier eine fotojournalistische Geniearbeit geleistet“, sagt Thomas Ohl vom Preußen-Museum. Ein Schwerpunkt der Fotodokumentation liegt auf den konservativen Parteien, deren Mitglieder überwiegend aus Bürgertum und Adel stammten. Den Sozialdemokraten widmete der Fotograf immerhin ein Foto. Auch Vertreter der polnischen Minderheiten aus Ostpreußen und Schlesien sind in Bildern festgehalten. Ein Teil der Fotografien aus der Braatz-Serie wurde in dem 1895 anlässlich Bismarcks 80. Geburtstag erschienenen Bildband „Bismarcks Denkmal“ veröffentlicht. Ein um 1900 gedrucktes Exemplar des Buches ist in der Ausstellung zu sehen.

(RP)
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