Interview mit Politikwissenschaftler zur Bundestagswahl „Die Politik steht vor enormen Herausforderungen“

Wermelskirchen · Patrick Bernhagen stammt aus Wermelskirchen und ist Professor für Politikwissenschaft. Im Interview spricht er über den Wahlkampf und die anstehende Bundestagswahl.

 Kommenden Sonntag öffnen die Wahllokale für die Bundestagswahl.

Kommenden Sonntag öffnen die Wahllokale für die Bundestagswahl.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Herr Professor Bernhagen, haben Sie schon gewählt oder gehen Sie am Sonntag ins Wahllokal?

Patrick Bernhagen Ich habe vor ein paar Tagen die Möglichkeit zur Briefwahl genutzt. Nachdem ich pandemiebedingt schon bei der baden-württembergischen Landtagswahl im März per Brief wählte, hatte ich mich eigentlich auf das Wahllokal gefreut – es gehört ja irgendwie dazu. Aufgrund eines schwierig zu terminierenden Besuchs habe ich aber nochmal umgeplant.

 Professor Patrick Bernhagen hat eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität in Stuttgart. Für die Bundestagswahl am kommenden Sonntag hat er Briefwahl beantragt, weil ein Besuch bei Verwandten seinen Gang ins Wahlbüro verhindert.

Professor Patrick Bernhagen hat eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität in Stuttgart. Für die Bundestagswahl am kommenden Sonntag hat er Briefwahl beantragt, weil ein Besuch bei Verwandten seinen Gang ins Wahlbüro verhindert.

Foto: Universität Stuttgart

Wie beurteilen Sie den diesmaligen Wahlkampf?

Bernhagen Eher mittelprächtig. Die Politik steht vor enormen Herausforderungen: Wie können wir die Klimakrise eindämmen und ihre jetzt schon nicht mehr vermeidbaren Folgen in den Griff bekommen? Wie machen wir unsere Altersversorgungssysteme fit für die Zukunft? Wie bringen wir die Digitalisierung auf eine Art und Weise voran, die den Menschen nützt – anstatt ihre Arbeitsplätze zu gefährden? Und wie gehen wir mit wachsenden sozialen Ungleichheiten und steigenden Migrationsbewegungen um? Das sind auch die Themen, die von den Menschen regelmäßig in Umfragen als die wichtigsten Probleme genannt werden. Im Wahlkampf tauchen diese Fragen allerdings kaum auf – obwohl es doch um die Auswahl der Parteien und Personen geht, die diese Probleme angehen sollen. Stattdessen sind auf Wahlplakaten überwiegend Gesichter zu sehen, oft gepaart mit inhaltsleeren Verkaufsphrasen. Der Rest der Wahlkampfenergie scheint weitgehend auf sogenanntes Negative Campaigning, also die Demontage politischer Gegnerinnen und Gegner, beschränkt zu sein. Anstatt um Sachfragen geht es viel um Personen, und das auf eine oftmals schmuddelige Art und Weise. Hinzu kommt eine verstärkte Lagerrhetorik: Links versus Rechts. Das kann man negativ als Polarisierung bewerten. Positiv ist daran allerdings, dass die Alternativen, die zur Wahl stehen, greifbarer und kontrastreicher werden.

Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien auf den Wahlkampf?

Bernhagen Der Einfluss der sozialen Medien ist insofern groß, als dass Parteien sowie Kandidatinnen und Kandidaten viel Zeit und Geld in diese Kanäle investieren. Vieles deutet darauf hin, dass diese gestiegene Bedeutung auch der erwähnten Personalisierung des Wahlkampfs Vorschub leistet. Allerdings kann diese Entwicklung nicht nur den sozialen Medien zugesprochen werden. Dieser Prozess ist schon seit Jahrzehnten in Gang. Mit den Fernsehduellen, bzw. jetzt -triellen, der Spitzenkandidatinnen und -kandidaten haben ihn ja gerade die traditionellen Massenmedien vorangetrieben.

Sind die Ängste zur manipulierten Briefwahl in irgendeiner Form berechtigt?

Bernhangen Nein. Im internationalen Vergleich ist der Wahlprozess in Deutschland extrem integer. Daran hat der verstärkte Gebrauch der Briefwahloption nichts geändert. Es besteht auch kein statistischer Zusammenhang zwischen Wahlintegrität und Briefwahl.

Manche sprechen von gar von „amerikanischen Verhältnissen“ – ist da was dran?

Bernhagen Im Zusammenhang mit Wahlkämpfen und Wahlen gibt es sicher einige Phänomene, die vor einigen Jahrzehnten überwiegend mit den USA in Verbindung gebracht wurden, und die in den letzten Jahren bei uns zugenommen haben. Neben der erwähnten Personalisierung und dem erwähnten Negative Campaigning, gehören dazu auch Kampagnen, die sich gezielt an bestimmte Wählergruppen, etwa die Erstwählerinnen und -wähler, oder einzelne Wahlkreise richten. Ich würde da aber eher von einer Professionalisierung sprechen; nichts daran halte ich für spezifisch amerikanisch.

Glauben Sie, dass 16 Jahre Merkel einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben?

Bernhagen Ich erwarte vor allem einen indirekten Einfluss, der daher rührt, dass Frau Merkel der Union nicht mehr als Spitzenkandidatin zur Verfügung steht. Bei Wahlen spielt der sogenannte Amtsinhaber-Bonus eine Rolle. Von diesem profitiert die amtsinhabende Person oder Partei dadurch, dass sie in den vergangenen Jahren zumindest sichtbar und bekannt geworden ist und dabei prinzipiell auch die Fähigkeit zum Regieren unter Beweis stellen konnte. Mit den Herausforderinnen oder Herausforderern hingegen ist aus Sicht der Wählerschaft mehr Unsicherheit verbunden. Zumindest den personenbezogenen Anteil dieses Vorteils kann die Union jetzt nicht mehr für sich nutzen. Als Finanzminister und Vizekanzler profitiert in erster Linie Olaf Scholz überproportional von diesem Bonus.

Halten Sie es für sinnvoll, dass man theoretisch lebenslang Bundeskanzler werden kann, wenn man nicht abgewählt wird?

Bernhagen Im deutschen Verfassungsgefüge gibt es wahrscheinlich wichtigere Baustellen als die Frage der Amtszeitbegrenzung der Bundeskanzlerin. So etwa die Auswirkungen des Wahlrechts auf die Größe des Bundestags. Gegen die Einführung einer Amtszeitbegrenzung spräche, dass hierdurch die Volkssouveränität beschnitten würde. Der Wählerschaft wäre es dann ja ab einem bestimmten Punkt, etwa nach Ablauf von zwei Wahlperioden, nicht mehr möglich, durch ihre Vertreterinnen und Vertreter im Bundestag eine bestimmte Person zur Kanzlerin oder zum Kanzler wählen zu lassen, selbst wenn eine Mehrheit dies gerne tun würde. Verfassungsrechtlich wäre eine entsprechende Grundgesetzänderung mit den notwendigen Zweidrittelmehrheiten wohl möglich. Aus demokratietheoretischer Sicht sollte dieser Aspekt aber sorgsam erwogen werden. Auf der anderen Seite wird diese Diskussion ja gelegentlich in Zusammenhang mit einer Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre geführt. Sollte sich so etwas durchsetzen, würden die Argumente für eine Amtszeitbegrenzung in meinen Augen gestärkt. Hier spielen mehrere Faktoren in die Abwägung hinein.

Man hat den Eindruck, dass Inhalte im Vergleich zu Skandalen wesentlich weniger wichtig sind. Stimmt das?

Bernhagen Die oben angesprochene Personalisierung beinhaltet ja zum Teil, dass individuelles Verhalten von Politikerinnen und Politiker im Wahlkampf an Bedeutung zunimmt – dazu zählt eben auch Fehlverhalten. In den Kommunikations- und Politikwissenschaften wird das Phänomen der Medialisierung beschrieben. Damit ist gemeint, dass sich Politiker zunehmend der Logik der Medien anpassen, weil dies für ihre Beliebtheit und ihre Wiederwahlchancen nützlich ist oder sie sich dieser Logik nur schwer entziehen können. Zur Medienlogik gehört wiederum, dass Skandale bessere Schlagzeilen und damit Umsätze liefern. Diese Logik bauen Politikerinnen und Politiker sowie ihre Wahlkampfteams zunehmend in ihre Strategien ein. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass Skandale schon lange zum politischen Geschäft gehören – mindestens seitdem es Wahlen und Zeitungen gibt.

Betrachten Sie selbst den Wahlkampf analytisch oder emotional?

Bernhagen Sowohl als auch: Der Bürger in mir hofft natürlich, dass aus der Wahl eine Regierung hervorgehen wird, die sich den großen Herausforderungen unserer Zeit ebenso beherzt wie umsichtig widmet. Da spielen Emotionen sicher eine Rolle. Der Politikwissenschaftler in mir versalzt diese Hoffnungen dann wieder mit Skepsis. In der Klimapolitik etwa scheint keine der im Bundestag vertretenen Parteien den Ernst der Lage erfasst zu haben.

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