Initiative holt 34 Flüchtlinge nach Wermelskirchen Sacha muss keine Bomben mehr fürchten

Wermelskirchen · Der achtjährige Sacha gehört zu den 34 Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind und von der Initiative „Willkommen in Wermelskirchen“ aus dem Grenzgebiet geholt wurden. Er und seine Mutter konnten nur wenige Habseligkeiten mitnehmen.

In den frühen Morgenstunden kam der Bus am Stephanus-Gemeindehaus in Neuenhaus an.

In den frühen Morgenstunden kam der Bus am Stephanus-Gemeindehaus in Neuenhaus an.

Foto: Stadt Wermelskirchen/Kellermann

Zwischenzeitlich läuft der achtjährige Sacha angespannt umher – vier Schritte vor und kehrt um. Sprechen kann der Junge nicht, er ist Autist. Immerhin: Die von Alarmsirenen und Bombenhagel ausgelösten extremen Angstzustände von Panik und Schreiattacken bis zur Atemlosigkeit bleiben dem Jungen nunmehr erspart. Ein kleines Stückchen Schokokuchen entlockt Sacha den kurzen Anflug eines Lächelns.

Gemeinsam mit seiner Mutter Tatyana Bydyakova ist Sacha vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet. Sie berichtet im Gespräch mit unserer Redaktion, übersetzt durch Dolmetscherin Anjela Cyriax, von den schlimmen Momenten, die sie mit ihrem Sohn durchgemacht und zur Flucht bewogen hat: „Die Alarme und die beengten Situation in den Luftschutzkellern haben bei meinem Sacha stets Anfälle ausgelöst.“ Die 37-Jährige und ihr Sohn gehören zu der Gruppe von 34 Geflüchteten, die durch die Aktion der Flüchtlingshilfe „Willkommen in Wermelskirchen“ mit der Evangelischen Stephanus-Kirchengemeinde Hilgen-Neuenhaus per Reisebus an der polnisch-ukrainischen Grenze abgeholt und im Stephanus-Gemeindehaus in Empfang genommen wurden.

Tatyana Bydyakova (l.) und ihr achtjähriger Sohn Sacha sind nun in Sicherheit. Dolmetscherin Anjela Cyriax begleitete die Busfahrt.

Tatyana Bydyakova (l.) und ihr achtjähriger Sohn Sacha sind nun in Sicherheit. Dolmetscherin Anjela Cyriax begleitete die Busfahrt.

Foto: Stephan Singer

Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal mit ihrem Kind im Ausland landet, gibt Tatyana Bydyakova unumwunden zu: „Ich liebe meine Heimat und meine Leute, aber der Krieg hat das Leben von einen Tag auf den anderen umgedreht. Mein Kind war in der Ukraine in Behandlung, jetzt gibt es keine Behandlung mehr.“ Die Kinder blieben auf der Strecke: „Bomben fliegen auf Kindergärten und Krankenhäuser.“ Geflohen ist die Mutter mit ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln für ihren Sohn, ihren Papieren und ihrem Handy – mehr ließe sich in überfüllten Zügen oder auf langen Fußmärschen eh nicht transportieren. „Eine baldige Rückkehr in die Heimat ist mir wichtig. Und dass Europa hilft, diesen aggressiven Krieg zu stoppen“, sagt Tatyana Bydyakova.

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Foto: dpa/Henning Kaiser

Keiner der Kriegsflüchtlinge habe gänzlich die Hoffnung verloren, wenngleich sie von einer „großen Traurigkeit und Unsicherheit“ geprägt wären, beschreibt Anjela Cyriax aus Duisburg, die als Dolmetscherin die Busfahrt begleitet hat: „Diese Menschen stehen unter Schock. Ich habe ihnen in Polen gesagt, dass alles gut wird, und dennoch waren sie skeptisch.“

Diese Erfahrung bestätigt Dorothea Hoffrogge von der Stephanus-Gemeinde und „Willkommen in Wermelskirchen“: „Unter den Flüchtenden wird davon gesprochen, dass wohl auch Busse mit kriminellen Absichten an der Grenze auftauchen – wir können nicht prüfen, ob das stimmt oder möglicherweise bewusst gestreute Gerüchte zur Verunsicherung sind.“ Geholfen habe wohl das Stichwort „Kirche“, dass die Flüchtlinge davon überzeugt hat, doch in den Bus nach Wermelskirchen zu steigen, schätzt Volker Ingo Preyer von „Willkommen in Wermelskirchen“ ein. Preyer gab die Initialzündung für die Aktion und stand via Handy genauso wie Dorothea Hoffrogge ständig in Kontakt mit dem Busfahrerduo und ihren Begleitern.

An drei Stellen im Umfeld der polnischen Grenzstadt Prömsel/Przemysl auf der bedeutenden Bahnstrecke Krakau-Lemberg „fischte“ der Bus die vor dem Krieg geflüchteten Menschen auf: am Bahnhof, in einem Kloster und sogar an einer Raststätte, zu der das Busteam eigens ein Taxi fahren ließ, damit die Flüchtlinge den Bus noch antreffen. „Vor Ort gibt es da nicht wirklich eine Organisation, die einem sozusagen die Leute übergeben – da ist alles im Chaos“, skizziert Dorothea Hoffrogge. Anjela Cyriax bestätigt das aus eigener Anschauung vor Ort: „An der polnischen Grenze sind zwar sehr viele freiwillige Helfer im Einsatz, aber die Massen an Geflüchteten sind zu immens. Diese Menschen müssen ganz schnell weitergeleitet werden, das Leid ist nicht zu verstehen.“

Die Wermelskirchener Hilfsaktion gelangte durch Vermittlung der Russisch-Orthodoxen Diakonie Europas an die Geflüchteten. „Das hat uns geholfen. Außerdem ein privater Kontakt nach Polen“, erläutert Dorothea Hoffrogge, die durch eine Inklusionshelferin am Leverkusener Werner-Heisenberg-Gymnasium, wo Hoffrogge als Lehrerin arbeitet, in Kontakt kam.

Bei der Ankunft des Busses, der auf der Hinfahrt Hilfsgüter mitgenommen hatte, in Neuenhaus war es am frühen Morgen noch dunkel. Im Stephanus-Gemeindehaus erwartete die Geflüchteten ein Frühstück sowie gespendete Spielsachen und Kleidung. Auch ein Corona-Schnelltest gehörte zur Begrüßung – alle verliefen negativ.

Im Untergeschoss des Gebäudes eröffneten Sozialamtsleiterin Tanja Dehnen und ihr fünfköpfiges Team von der Stadtverwaltung ab 6.30 Uhr ein provisorisches „Bürgerbüro“, um die Registrierung der Ankömmlinge formell durchzuführen, viele Nachfragen, beispielsweise Arztbesuchen, zu beantworten und die Menschen in Unterkünfte zu vermitteln. Letztere stellen viele Privatleute, die sich in den vergangenen Tagen zur Aufnahme von Flüchtlingen gemeldet hatten.

Dorothea Hoffrogge und Jochen Bilstein (gelbe Weste) begrüßten die Flüchtlinge.

Dorothea Hoffrogge und Jochen Bilstein (gelbe Weste) begrüßten die Flüchtlinge.

Foto: Stadt Wermelskirchen/Kellermann

Für die Stadt war unter anderem Caroline Czaya vom Haupt- und Personalamt im Einsatz und froh, dass Dolmetscher zur Seite standen: „Ich spreche Deutsch und Polnisch fließend. Die Menschen stammen allerdings nicht vom ukrainischen Gebiet an der polnischen Grenze, sondern mehr aus dem östlichen Raum an der Grenze zu Russland.“ Aber: Mit einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Polnisch, Händen und Füßen, Einfühlungsvermögen sowie der Dolmetscherunterstützung klappe das.

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