90. Geburtstag in Wermelskirchen Von Erntekronen, Ponys und Erinnerungen

Wermelskirchen · Gerd Vanselow feiert am Sonntag seinen 90. Geburtstag. Beim Blättern im Fotoalbum erinnert er sich nicht nur an die alte Heimat in Pommern, sondern auch an rauschende Erntefeste im Bürgerzentrum.

 Im feinen Zwirn: Gerd Vanselow wird am Sonntag stolze 90 Jahre alt. Auf eine große Feier muss der Jubilar corona-bedingt leider verzichten.

Im feinen Zwirn: Gerd Vanselow wird am Sonntag stolze 90 Jahre alt. Auf eine große Feier muss der Jubilar corona-bedingt leider verzichten.

Foto: Jürgen Moll

Gerd Vanselow blättert in einem alten Aktenordner. „Damals habe ich zum letzten Mal die Erntekrone in den Saal getragen“, erzählt er und deutet auf eine Aufnahme aus dem Bürgerzentrum, „danach musste das ein anderer machen, ich schaffte das nicht mehr.“ Jede Seite in dem alten Ordner weckt Erinnerungen – an rauschende Feste, große Gemeinschaft und echte Verbundenheit. „Für uns war es wichtig, dass wir uns hatten“, sagt er. Und dann hebt er seinen Blick und schaut einen Moment lang auf die Landschaftsaufnahme, die in seinem Zimmer hängt. „Wir haben eben eine ähnliche Geschichte“, sagt er und zeigt auf ein Schwarzweiß-Foto. Gemeinsam mit seiner Schwester steht er neben einem Kälbchen, hinter ihm erstreckt sich ein Feld und dann die Ostsee. „Rützenhagen“, sagt er. Und in dem Namen seines Heimatdorfes klingt ein bisschen Wehmut mit. Er habe eine schöne Kindheit gehabt in Pommern. Direkt hinter dem landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern begann die Ostsee. „Wir haben bei der Ernte geholfen und die Kühe gehütet“, erzählt er.

Als er gerade seinen 13. Geburtstag gefeiert hatte, veränderte sich sein Leben. Erst kamen die Russen, dann die Polen und schließlich wurde er mit seiner Mutter, seiner älteren Schwester und seiner Tante vertrieben. Wenn er von Gewehrkolben, Maschinenpistolen und Viehwagons spricht, dann scheinen die Bilder lebendig zu werden. „Wir wussten damals nicht, dass wir niemals zurückkehren können“, sagt er dann.

Sein Vater war im Krieg gefallen, zu Viert strandete die Familie in Thüringen. „Wir hatten nichts zu essen, ich litt erst an einer Leichenvergiftung und dann an Typhus“, erzählt er, „aber ich habe das überwunden.“ 1947 beantragte er mit Mutter, Schwester und Tante die Reise nach Wipperfürth, noch im gleichen Jahr kamen sie nach Wermelskirchen. „Der Bauer brachte Stroh und wir wurden in der alten Feuerwache einquartiert“, erzählt er, „aber wir wollten einfach nur nach Hause.“ Vertriebene seien damals auf den Straßen verspottet worden, die Ankunft in der neuen Heimat war schmerzvoll.

„Dann zogen wir in eine kleine Wohnung nach Büschhausen und ich begann eine Ausbildung zum Maschinenbauschlosser“, erinnert er sich, „das war wohl auch der Moment, in dem wir verstanden, dass wir nicht mehr zurückkommen.“ Stattdessen baute sich die Familie ein neues Zuhause auf. Gemeinsam mit Tante und Schwester kaufte er ein Haus an der Grüne Straße. Damals war er gerade 22 Jahre alt.

Während der Kirmes lernte er in der Eich seine spätere Ehefrau Elisabeth kennen – sie leitete die Küche im Hotel. 1963 heirateten die beiden. „Das waren schöne Zeiten“, sagt er und erinnert sich an das gemeinsame Leben in guter Nachbarschaft an der Grüne Straße. Drei gemeinsame Töchter kamen zur Welt und als sich eine von ihnen ein Pony wünschte, nahm er Kontakt zum Reitverein auf – und blieb. Er machte sich selbst einen Namen im Sattel. Währenddessen stellte ihm der Nachbar Wiesen für die Kaninchen und Hühner zur Verfügung. Er pflanzte Kartoffeln an, quartierte vorübergehend ein Pony im Garten ein. „Seine Minilandwirtschaft“, sagen seine Töchter.

Schon 1952 gründet er gemeinsam mit anderen die Pommersche Landsmannschaft. „Wir sprechen den gleichen Dialekt“, sagt er. Und sie haben eine ähnliche Geschichte: Sie sind Vertriebene der ersten Generation. Acht Mal kehrte Vanselow „nach Hause“ zurück – zum ersten Mal 1976, zum letzten mal 2013. Er scheint versöhnt mit der Geschichte, erzählt von guten Begegnungen im ehemaligen Rützenhagen. Die Erinnerung hielt er wach – mit vielen Freunden in der Landsmannschaft. Sie brachten ihre Kinder und Ehepartner mit, richteten riesige Erntefeste aus, sangen zusammen, spielten Theater und pflegten die Gemeinschaft.

Wenn Gerd Vanselow von diesen Feiern erzählt, dann strahlen seine Augen. Seit mehr als 50 Jahre ist er als Kulturwart im Einsatz. Er habe eine Spule im Bürgerzentrum angebracht, um die Erntekrone hochzuziehen. Die legendäre Schnapsbar habe er mitgebaut. Und jedes Jahr ließ er sich für die aufwändige Dekoration etwa Neues einfallen. „Wir haben wirklich viel gearbeitet und viel gelacht“, sagt er und erzählt von gemeinsamen Stunden mit Jürgen Weiher, Inge Koch oder Luise Kleiner.

In den vergangenen Jahren ist es ruhiger um die Landsmannschaft geworden – nicht erst Corona hat die Tradition verändert. „Viele sind gestorben“, sagt Gerd Vanselow und erzählt von Ehefrau Elisabeth, die im vergangenen Jahr starb. Am morgigen Sonntag wird Gerd Vanselow 90. Eigentlich hätte er den runden Geburtstag gerne noch mal groß gefeiert. „Ich habe große Feste immer geliebt“, sagt er und deutet wieder auf die alten Bilder. Die Pandemie verbietet es ihm. „Aber wir machen das Beste daraus“, sagt er dann, „so wie immer.“

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