Familienleben in Zeiten von Corona „Auf einmal wird wieder zusammen gegessen“

Wermelskirchen · Social Distancing hält Mitmenschen fern – außer die eigene Familie. Für das Zusammenleben ist das Chance und Herausforderung zugleich.

 Birgit Ludwig-Schieffers leitet die Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Birgit Ludwig-Schieffers leitet die Beratungsstelle für Eltern, Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Foto: Moll, Jürgen (jumo)

Die Türen der städtischen Beratungsstelle für Familien sind seit Montag geschlossen. Trotzdem sind Sie – telefonisch – für Eltern, Kinder und Jugendliche da. Warum ist das gerade jetzt so wichtig?

Birgit Ludwig-Schieffers Weil natürlich die ganz normale Erziehungsberatung weitergeht. Wir bearbeiten gemeinsam mit den Eltern Lösungen, die dann zuhause ausprobiert werden. Im nächsten Gespräch wird besprochen, wie das funktioniert hat. Auch die Trennungs- und Scheidungsberatung läuft weiter – jetzt eben telefonisch bedingt nur einzeln und nicht zu zweit, da arbeiten wir aber momentan noch an einer Lösung.

Das hört sich so an, als sei das Coronavirus gar nicht so ein Thema für Ihre Klienten?

Ludwig-Schieffers Nein, bisher tatsächlich nicht. Wir machen unter den Kollegen jeden Morgen eine Video-Konferenz, um die Situation zu besprechen und wir alle haben den Eindruck, dass es momentan ganz gut läuft bei den Familien zuhause – selbst bei den Eltern, die im Homeoffice arbeiten und nebenbei kleine Kinder betreuen müssen. Ich glaube, das kann grade eine Chance sein, Familie wieder neu zu leben.

Wie sieht diese Chance konkret aus?

Ludwig-Schieffers Eltern berichten uns von gemeinsamen Essenszeiten, die es vorher lange schon nicht mehr gab. Es wird sich wieder mehr miteinander beschäftigt, Eltern spielen wieder mit ihren Kindern, alte Brettspiele werden herausgekramt, auf einmal wird wieder gemeinsam gegessen. Der Stress ist bei vielen raus oder ist gerade noch dabei sich aufzulösen. Das gilt auch für die Kinder und Jugendlichen, denn Schule bedeutet eben auch Stress – der fällt jetzt weg. Zwar wird gelernt, aber zu selbst eingeteilten Zeiten. Das ist etwas anderes, als um sieben Uhr morgens an der Bushaltestelle zu stehen.

Für die, bei denen der neue Alltag möglicherweise noch nicht so gut funktioniert: Welche Tipps haben Sie für Familien?

Ludwig-Schieffers Eine Tagesstruktur ist ganz wichtig. Viele fragen sich vielleicht jetzt: Wie bekomme ich den langen Tag um? Es hilft, ihn in verschiedene Zeiten einzuteilen, die Mahlzeiten geben eine gewisse Grundstruktur vor. Nach der Frühstückszeit kann dann beispielsweise eine Lernzeit eingelegt werden – für die Eltern Arbeitszeit, die sie im Homeoffice nutzen können. Einen Ausgleich bieten Spielzeiten zwischendurch. So schaffen es auch kleine Kinder, mal eine gewisse Zeit ohne direkte Beschäftigung mit ihren Eltern auszukommen.

Birgt das enge Zusammenleben denn auch mehr Potenzial für Streit und Konflikte?

Ludwig-Schieffers Ja, das tut es. Momentan befinden wir uns noch in der Anfangsphase dieser Ausnahmesituation und keiner weiß, wie lange sie andauern wird. Für viele fühlt es sich gerade noch ein bisschen wie Urlaub an. Für uns ist es deswegen wichtig, schon jetzt präventiv zu arbeiten und die Familien auf mögliche Konflikte vorzubereiten. Denn wenn viele Personen für eine längere Zeit auf engem Raum leben – nicht jeder hat ein Haus mit Garten – kann das zur Eskalation führen. Natürlich darf auch zwischendurch mal eine Tür geknallt und gestritten werden. Aber es darf einem eben nicht die Hand ausrutschen. Die gewaltfreie Erziehung muss nach wie vor oberste Priorität haben.

Viel Zeit zuhause mit der Familie verbringen, das ist gerade für Jugendliche in der Pubertät nicht unbedingt die Traumvorstellung. Ist für sie die Situation besonders schwer?

Ludwig-Schieffers In der Pubertät ist die Peer-Gruppe wichtiger denn je, oft auch wichtiger als die eigene Familie. Der direkte Kontakt zu den Freunden fehlt natürlich jetzt, aber ich habe den Eindruck, die Jugendlichen bekommen das durch Videochats und ähnliches ganz gut hin. Ich denke, ältere Menschen, vor allem diejenigen, die alleine leben, haben es momentan am schwersten.

Eltern müssen plötzlich mit ihren Kindern lernen und ihnen mehr als sonst bei schulischen Aufgaben zur Seite stehen. Haben Sie da auch Anregungen für ein gutes Gelingen?

Ludwig-Schieffers Hier ist viel Kreativität gefordert. Ein Tipp, den ich Eltern gebe: Spielerisch in eine andere Rolle schlüpfen, etwa in die des Lehrers. Das kann dem Kind helfen, sich trotz des familiären Umfelds auf Lernen einzustellen.

Wie würden Sie Familien raten, mit dem Thema umzugehen?

Ludwig-Schieffers Eltern sollten mit ihren Kindern darüber sprechen, was los ist. Für sie ist es wichtig zu wissen, warum sie nicht in den Kindergarten, in die Schule oder ihre Oma besuchen dürfen. Je nach Alter der Kinder sollte man sie allerdings vor Nachrichtenbildern schützen, die zum Beispiel zeigen, wie Särge in Italien abtransportiert werden. Auch als Erwachsene sollte man sich vor einem übersteigerten Nachrichtenkonsum schützen, und sich morgens und abends über die aktuelle Lage informieren. Über das Thema zu sprechen, ist wichtig. Alle im Haushalt sollten versuchen, sich jetzt umso mehr zuzuhören, auf seine eigenen und die Bedürfnisse der anderen zu achten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Und wenn das nicht funktioniert – welche Chance bietet die professionelle Beratung?

Ludwig-Schieffers Vor allem bietet sie den Blick von außen. Wenn man mit einem guten Freund über seine Probleme spricht, kann das natürlich auch helfen – man ist aber emotional sehr verbunden und das Gespräch deswegen oft nicht ganz ehrlich. Wir alle in der Beratungsstelle haben eine therapeutische Ausbildung und können bestimmte Verhaltensweisen ganz anders analysieren, werten und begründen. Viele fragen sich vor dem ersten Anruf: Ist mein Problem denn wirklich so groß? Wenn es das nicht ist, kann es meistens im Erstgespräch geklärt und eine Lösung gefunden werden – und wenn es doch größer ist, begleiten wir unsere Klienten so lange, bis sie uns nicht mehr brauchen.

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