Leben mit der A1 Ein Leben zwischen Idylle und Lärmfrust

Bollinghausen · Christiane Matic-Meester und Ehemann Rade fühlen sich in Bollinghausen zu Hause – trotz der Autobahn, mehr Verkehr und dem Gewerbegebiet.

 In ihrem Garten vergessen Christiane Matic-Meester und Rade Matic manchmal die Autobahn – im Hintergrund ist die Lärmschutzwand zur A1 zu sehen.

In ihrem Garten vergessen Christiane Matic-Meester und Rade Matic manchmal die Autobahn – im Hintergrund ist die Lärmschutzwand zur A1 zu sehen.

Foto: Theresa Demski

Die Bank unter dem Nussbaum bleibt ihr Lieblingsplatz. Lärm hin oder her. Wenn Christiane Matic-Meester und Ehemann Rade unter dem uralten Baum Platz nehmen, dann blenden sie das Rauschen kurz aus. „Inzwischen hören wir über die Autobahn einfach hinweg“, sagt Christiane Matic-Meester, „meistens jedenfalls.“ Dann sehen sie zwar am Ende ihres Gartens die hohen Lärmschutzmauern, die Dächer der Lastwagen und immer mal wieder hören sie eine peitschende Plane oder einen aufheulenden Motor. Aber sie wenden ihren Blick dann eben auf die stolzen Vorwerk-Hühner, die im Garten ihren Platz gefunden haben, auf ihre Tasse Kaffee und denken an die Idylle vergangener Tage.

„Ich bin auf Bollinghausen geboren“, sagt Christiane Matic-Meester, „im gleichen Zimmer, in dem schon mein Vater und mein Großvater geboren wurden.“ Das einst gemütliche Fachwerkhaus steht heute an der Kreuzung, an der in den nächsten Jahren ein Kreisverkehr entstehen soll, um das wachsende Gewerbegebiet besser anschließen zu können. „Mein Urgroßvater hat die Häuser gebaut“, erzählt sie, „vor 150 Jahren.“ Damals waren Pferde auf den Straßen unterwegs. In ihrer Kindheit fuhr hin und wieder ein Trecker, mal ein Käfer durch den Ort. „Aber meistens hatten wir Kinder die Straße auf Bollinghausen für uns“, sagt sie.

Kartoffeln lesen, Runkeln reinbringen, auf dem Trecker mitfahren, Kälbchen besuchen und Kühe reinholen: Das sei die Idylle gewesen, in der sie aufgewachsen sei. Auch damals schon trennte die Autobahn das Tal in zwei Teile. „Aber da waren wesentlich weniger Autos unterwegs, und sie fuhren deutlich langsamer“, sagt Rade Matic. Er wuchs im benachbarten Oberwinkelhausen auf. Und in den 1960er-Jahren machten sich die Kinder einen Spaß daraus, über die Autobahn zu laufen. „Wir waren fast schneller als die Autos“, sagt Rade Matic.

 Ohne Lärmschutzwand und deutlich schmaler: die A1 in den 1950er-Jahren.

Ohne Lärmschutzwand und deutlich schmaler: die A1 in den 1950er-Jahren.

Foto: Christiane Matic-Meester

Aber dann füllten sich die Straßen, es wurde lauter. Irgendwann konnten sie ihr eigenes Wort unter dem Nussbaum nicht mehr verstehen. Damals hatten Rade Matic und Christiane Matic-Meester ihre Heimat bereits verlassen. „Aber ich erinnere mich noch, dass ich bei einem Besuch bei meinen Eltern nachts wach lag und dachte: Irgendwann muss diese Autobahn doch mal leiser werden“, erzählt die heute 65-Jährige. Eine Bürgerinitiative kämpfte schließlich für die Lärmschutzmauer, die zumindest für einige der Bewohner in Bollinghausen etwas weniger Lärmfrust mit sich brachte.

 Gelebte Tradition: Das Hoffest, das in diesem Jahr wohl erstmals ausfallen wird – wegen Corona.

Gelebte Tradition: Das Hoffest, das in diesem Jahr wohl erstmals ausfallen wird – wegen Corona.

Foto: Christiane Matic-Meester

Als Christiane Matic-Meester und Rade Matic 2003 zurück in das Haus zwischen Autobahn und Idylle zogen, da bemühten sie sich um Fördergelder für Lärmschutzfenster. „Wir schlafen bei geschlossenen Fenstern“, sagen die beiden, „manche Fenster öffnen wir nur zum Putzen.“ Die Autobahn habe das Leben der Familie in all den Jahren immer mal wieder verändert: Regelmäßig mussten sie Waldflächen abtreten, um den Ausbau der Autobahn zu ermöglichen. Als es noch die Raststätte Bollinghausen gab, aber keine Sanitäranlagen, begann ihr Wald plötzlich zu stinken. Und auch heute finden sich dort viel Müll und großer Lärm. Trotzdem ist der kleine Ort am Rande der Stadt ihr Zuhause geblieben: „Weil wir uns hier aufeinander verlassen können. Weil wir uns so lange kennen. Menschen machen Heimat aus“, sagt Christiane Matic-Meester. Die Autobahn habe die Idylle am Ende nicht vertreiben können.

Allerdings habe inzwischen auch der Verkehr auf der Hauptstraße vor der Haustür zugenommen. „Die Menschen werfen Müll aus dem Fenster“, sagt Matic, „einmal hat eine fliegende Bierflasche unser Wohnzimmerfenster getroffen.“ Vorbeifahrende nahmen Blumenschmuck aus dem Vorgarten mit, regelmäßig bringen Laster das Wohnzimmer zum Vibrieren. Im vergangenen Mai fuhren dann die Bagger vor, um gleich gegenüber das neue Firmengelände von Wetec und Dönges zu errichten. „Das hat Staub, Dreck und Lärm mit sich gebracht“, sagt das Paar und deutet dann auf den neuen Blick aus ihrem Wohnzimmer, der nun auf die Firmenfassade fällt. „Wir wünschen uns manchmal, dass die Verantwortlichen bei der Stadt und im Unternehmen mal einen Nachmittag mit uns im Garten sitzen, um unsere Perspektive zu verstehen“, sagt Rade Matic, „wenn sie uns einfach mal fragen würden: Wie können wir etwas von dem Druck nehmen?“ Stattdessen hätten sie im Rathaus den Rat bekommen, doch wegzuziehen, wenn ihnen die Situation nicht passe. Der Ton – auch der Verantwortlichen bei Straßen.NRW – sei in all den Jahren selten verständnisvoll gewesen. „Und manchmal denke ich schon: Woanders ist es auch schön“, sagt Christiane Matic-Meester, „aber das hier ist halt unser Zuhause“. Und das wird auch dann noch gelten, wenn die nächsten Baustellen in ihrer Nachbarschaft eröffnet werden – erst soll die Brücke saniert werden, dann ein Kreisverkehr vor ihrer Haustür entstehen. „Vielleicht kommen wir dann besser auf die Straße und brauchen nicht mehr fünf Minuten, um rauszukommen“, gibt sich Rade Matic hoffnungsfroh.

Und dann wenden die beiden ihre Blicke wieder den Hühnern zu, die sich hier ein Stück Idylle bewahrt haben – im Schatten der Autobahn.

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