Bürger zum Missbrauchskomplex Wermelskirchen „Was ist in diesem Fall gerecht?“

Wermelskirchen · Angesichts des Auftakts des Missbrauchs-Prozesses vor dem Kölner Landgericht gegen den Angeklagten Marcus R. bewegen sich die Reaktionen in Wermelskirchen zwischen Fassungslosigkeit, Wut und Mitgefühl mit den Opfern.

Der in Wermelskirchen verhaftete Angeklagte hält sich im Gerichtssaal eine Mappe vor das Gesicht. In dem Prozess zu dem Missbrauchskomplex werden Marcus R. 124 Taten zur Last gelegt.

Der in Wermelskirchen verhaftete Angeklagte hält sich im Gerichtssaal eine Mappe vor das Gesicht. In dem Prozess zu dem Missbrauchskomplex werden Marcus R. 124 Taten zur Last gelegt.

Foto: dpa/Oliver Berg

In den Tagen des Prozessauftakts im Kindesmissbrauchs-Verfahren vor dem Landgericht Köln richtet sich in Wermelskichen Fassungslosigkeit und Wut gegen den Angeklagten Marcus R. Der 45-Jährige, der erst im Frühjahr vergangenen Jahres von Wuppertal nach Wermelskirchen umgezogen war und im Dezember 2021 in seinem Haus in Tente von einem Sondereinsatzkommando der Polizei verhaftet wurde, legte zum Start des Verfahrens ein umfassendes Geständnis ab – insgesamt werden dem „Monster“, wie ihn die Boulevard-Presse bezeichnete, von der Staatsanwaltschaft 124 Taten zur Last gelegt, die zwischen 2005 und 2019 erfolgten. Das jünsgte Opfer soll ein rund ein Monat altes Mädchen gewesen sein.

„Ich muss gestehen, dass es mir als Mutter sehr, sehr schwer fällt, den Prozess zu verfolgen. Weil ich zwischen unfassbarem Schock über die Grausamkeit der Taten, tiefer Betroffenheit und Mitgefühl mit den Opfern und ehrlicherweise auch Wut, dass so etwas überhaupt passieren kann, schwanke“, sagt Bürgermeisterin Marion Lück auf Anfrage unserer Redaktion: „Es ist für mich absolut nicht nachvollziehbar, wie jemand kleinen Kindern, die unser höchstes Gut und größtes Glück sind, solche Schmerzen bereiten und für immer Narben auf ihren Seelen hinterlassen kann. Der Gedanke an die Kinder, die dieses Leid erleben mussten, bricht mir, wie sicherlich allen anderen auch, das Herz.“

Allerdings sei sie froh, dass dem Beschuldigten der Prozess gemacht werde, stellt Marion Lück fest: „Er wird eine hoffentlich gerechte Strafe für seine Taten erhält. Was ist aber in diesem Fall gerecht? Denn das Erlebte wird dadurch nicht ungeschehen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass den betroffenen Kindern und Familien geholfen wird. Dass sie Unterstützung bekommen, um dieses Trauma besser zu verarbeiten.“ Ihre Gedanken sind in diesen Tagen des Prozesses bei den Opfern und deren Familien, betont die Bürgermeisterin: „Ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie viel Schmerz es für sie bedeuten muss, den Prozess zu verfolgen.“

Von den Taten, die Marcus R. vorgeworfen werden, ist kein Kind in Wermelskirchen betroffen. Das betont Jugendamtsleiterin Barbara Frank, sagt aber auch: „Kindesmissbrauch hat es sicherlich auch in Wermelskirchen schon gegeben – da braucht man sich keine Illusionen machen.“ Denn: Statistisch befinde sich in jeder Schulklasse und jeder Kindergartengruppe ein Kind, dass von sexualisierter Gewalt oder Missbrauch betroffen ist – ebenso wie das Problem kein Wermelskirchener sei, sei es auch keines von Nordrhein-Westfalen, wo zuletzt viele Täter dingfest gemacht worden seien, erklärt Frank: „Das sind deutschland-, europa- und gar weltweite Täter-Netzwerke.“ Das Jugendamt habe das staatliche Wächteramt inne: „Wir sind zur Gefahrenabwehr da.“

Entsprechend ginge das Jugendamt den Fällen von Verdacht auf Verletzung des Kinderschutzes mit aller höchster Priorität nach. Die meisten der akuten Fälle, in denen das Jugendamt in Wermelskirchen eingreife müsse, beziehen sich nach Franks Angaben auf Kindes-Vernachlässigung, nicht auf sexuellen Missbrauch.

André Frowein, Vater, Vorsitzender des Stadtmarketingvereins „Wir in Wermelskirchen“ und Leiter des Jugendcafés (Juca), setzt auf Früherkennung, um schnell bei Fällen von Verletzung des Kinderschutzes einschreiten zu können: „Kinder sind es wert, eigene Grenzen artikulieren zu können. Das müssen wir Kindern beibringen und sie stärken.“ Dazu gehöre auch die regelmäßige Schulung von professionellem als auch ehrenamtlichem Personal in allen Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit.

Angesichts des Prozesses gegen Marcus R., der letztlich kaum etwas mit Wermelskirchen zu tun habe, betont Frowein: „Mein Mitgefühl gilt den Kindern und ihren Angehörigen – da sind Grenzen überschritten worden, die nie überschritten werden dürfen. Was da passiert ist, ist eine Riesen-Katastrophe.“ Aber: „Dass das in die Öffentlichkeit gelangt, ist gut, denn es sensibilisiert die Menschen und setzt andere Täter unter Druck.“ Wer meine, dass dadurch eine Stadt wie Wermelskirchen im Misskredit gebracht würde, springe zu kurz: „Das ist dann nur oberflächliches Schubladen-Denken.“

Er habe nicht viel mitbekommen, sagt der Wermelskirchener Sebastian Becker zu dem Missbrauchs-Prozess gegen Marcus R. vor dem Kölner Landgericht. Er habe nur über Bekannte erfahren, dass der Angeklagte in der Zeit, als er in Tente wohnhaft war, mal an der Hohe Straße in Käfringhausen im Müll gewühlt habe, laut den Spekulationen auf der Suche nach Windeln. „Man kann nur hoffen, dass er lebenslang ins Gefängnis kommt“, sagt der 29-Jährige. Überrascht sei er nicht vom Tatkomplex, so etwas passiere in Deutschland einfach zu oft.

„Der Prozess interessiert mich schon, ich verfolge die Berichterstattung manchmal im Radio“, sagt ein 59-Jähriger Wermelskirchener. „Ich erwarte, dass er in Behandlung kommt und hinterher eingesperrt bleibt. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist sonst einfach zu groß.“ Einen Imageschaden für Wermelskirchen fürchtet er derweil nicht: „Die Stadt kann nichts dafür.“

Eine sehr eindeutige Meinung haben zwei weitere Wermelskirchener, die ihre Namen ebenfalls nicht veröffentlicht sehen wollen. „Wer so was begeht, der muss für immer weg“, sagt eine 64-Jährige, die den Prozess verfolgt: „Und dann liegt er dem Staat noch auf der Tasche.“ Sie befürchtet, dass der Prozess ein schlechtes Licht auf ihre Heimatstadt wirft.

Ein 50-Jähriger, der sich mit der 64-Jährigen auf dem Wochenmarkt für einen Kaffee getroffen hat, stimmt ihr zu. „Da hört der Spaß auf. In anderen Ländern würden sie den in die Wüste schicken“, macht er aus seinem Zorn keinen Hehl. „Ich würde mir ja Sorgen machen, wenn ein erwachsener Mann mittleren Alters seine Dienste als Babysitter anbieten würde“, sagt der Vater einer kleinen Tochter.

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