Interview Frühzeitige Berufsorientierung in der Schule

Bergisches Land · Geschäftsführer der Agentur für Arbeit spricht über die Ausbildungssituation – und was Jugendliche ohne Lehrstelle machen sollten.

 Marcus Weichert ist Chef der Agentur für Arbeit in Bergisch Gladbach, die auch die Städte Wermelskirchen, Radevormwald und Hückeswagen betreut.

Marcus Weichert ist Chef der Agentur für Arbeit in Bergisch Gladbach, die auch die Städte Wermelskirchen, Radevormwald und Hückeswagen betreut.

Foto: Agentur für Arbeit

Herr Weichert, wie ist der Stand der Dinge zum Ausbildungsbeginn – sind alle Bewerber versorgt?

Weichert Nein, und das ist auch leider nicht möglich. Es wird immer Bewerber und Bewerberinnen geben, die keinen passenden Ausbildungsplatz finden. Und gleichzeitig wird es immer Arbeitgeber geben, deren Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben.

Welche Berufe sind denn derzeit besonders gefragt?

Weichert Bei den Bewerberinnen und Bewerbern sind vor allem der (Einzel-)Handel und das Büro gefragt – gewerbliche oder handwerkliche Berufe tauchen eher in der zweiten Hälfte der Top Ten auf.

Und welche Branchen brauchen dringend Auszubildende?

Weichert Auch die Arbeitgeber im Handel und im Büro suchen durchaus nach Azubis. Jedoch finden sich bei den Top Ten der Ausbildungsstellen auch Berufe, die bei den Bewerbern nicht so eine große Rolle spielen. Dazu gehören etwa die zahnmedizinischen Fachangestellten, die Zerspanungsmechaniker oder die Werkzeugmacher.

Wie ist denn die Ausbildungssituation im Rheinisch-Bergischen und dem Oberbergischen Kreis allgemein?

Weichert In beiden Kreisen wurden der Agentur für Arbeit in diesem Jahr mehr Ausbildungsstellen gemeldet als im vorigen Jahr. Jedoch gibt es in beiden Kreisen auch mehr unversorgte Bewerbern. Das liegt häufig an sogenannten „Passungsproblemen“ – diese sind unterschiedlicher Art – letztlich führen sie aber einfach dazu, dass die beiden Seiten nicht zusammenfinden.

Was passiert mit Jugendlichen, die keine Ausbildungsstelle gefunden haben und wie viele sind das?

Weichert In den beiden Kreisen zusammen sind aktuell noch 678 Bewerber, im Oberbergischen Kreis sind es 298, im Rheinisch-Bergischen Kreis 380, ohne einen Ausbildungsplatz oder eine sonstige Alternative, wie zum Beispiel einem weiteren Schulbesuch. Aktuell läuft die diesjährige Nachvermittlungsaktion. Das bedeutet, dass alle noch unversorgten Jugendlichen durch die Berufsberater der Agentur für Arbeit kontaktiert werden und auch jetzt noch Vorschläge für Ausbildungsstellen bekommen können. Sollte auch das nicht zum Erfolg führen, gibt es auch noch weitere Überbrückungsmöglichkeiten.

Woran liegt es im Allgemeinen, dass Jugendliche unversorgt bleiben?

Weichert Das kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Manche liegen in den Personen selbst: Sie können einfach die Anforderungen der Arbeitgeber nicht erfüllen. Oder die Arbeitgeber finden die Jugendlichen aus verschiedenen Gründen als „nicht passend“. Dann gibt es die Schwierigkeiten beim Erreichen der Ausbildungsstelle oder Berufsschule. Ein weiteres Stichwort ist die regionale Mobilität: Ohne Führerschein und Auto ist es gerade im Oberbergischen nicht gerade einfach, von A nach B zu kommen. Demgemäß nützt es einem Jugendlichen aus Waldbröl oder Morsbach nichts, wenn es eine entsprechende Ausbildungsstelle in Radevormwald oder Hückeswagen gibt.

Wie kann gerade das Handwerk seinen Ruf verbessern und so mehr Lehrlinge anziehen?

Weichert Die Handwerkskammern und Kreishandwerkerschaften sind hier sehr aktiv. Viele Berufsbilder haben sich stark verändert – sind sehr „technisch“ geworden. Das ist noch nicht überall bekannt. Ansonsten gilt: Für den guten Ruf ist jeder in erster Linie selbst verantwortlich – das schließt auch uns als Agentur für Arbeit mit ein.

Wie viele Flüchtlinge sind im Rheinisch-Bergischen und im Oberbergischen Kreis in Ausbildungsverhältnissen?

Weichert Das kann man pauschal so nicht beantworten, da die Statistik keine „Flüchtlinge“ kennt, sondern nur Nationalitäten. Wenn man von den acht Asylherkunftsländern mit der höchsten Bleibewahrscheinlichkeit ausgeht, so sind im Oberbergischen Kreis diesbezüglich 112 Auszubildende beschäftigt und im Rheinisch-Bergischen Kreis 95.

Welche Berufe wollen jugendliche Flüchtlinge gerne erlernen – unterscheidet sich das von gleichaltrigen deutschen Jugendlichen?

Weichert Bei den Geflüchteten sind häufig die Handwerksberufe eine Option. Zum einen, weil viele der Flüchtlinge in diesen Berufen Vorerfahrungen haben. Zum anderen spielt die Sprachbarriere aber auch hier nicht eine ganz so große Rolle, wie etwa in Büroberufen. Dort sind in der Regel sehr gute bis perfekte Deutschkenntnisse erforderlich.

Ist es tendenziell schwieriger, Geflüchtete in Ausbildung zu bringen?

Weichert Es mag eine wenig überraschende Antwort sein, aber sie lautet: Ja.

Was sind hier die Probleme?

Weichert Platt gesagt: die Sprache. Für eine Anlern-Tätigkeit reichen gegebenenfalls grundlegende Sprachkenntnisse aus. Für eine Ausbildung aber benötigt man mindestens das Sprachniveau B1 – besser ist noch das Sprachniveau B2. Schließlich muss der Jugendliche dem Berufsschulunterricht folgen können und Klausuren und Prüfungen schreiben. So ein Sprach-Niveau zu erreichen – das braucht einfach seine Zeit. Dazu kommt ein grundlegender Unterschied: In den Herkunftsländern ist „Ausbildung“ unbekannt – die Jugendlichen stellen sich die Frage, warum sie drei Jahre für wenig Geld arbeiten sollen, wenn sie doch in der Produktion gleich mehr Geld verdienen können. Das muss man erst einmal erklären. Dazu kommt, dass viele Familien in der Heimat haben, die die Geflüchteten nun finanziell unterstützen möchten.

Gibt es auch Ressentiments von Arbeitgebern/Ausbildungsbetrieben?

Weichert Natürlich ist die Aufgeschlossenheit unterschiedlich ausgeprägt. Arbeitgeber haben vielleicht Bedenken, dass es Schwierigkeiten geben kann. Sprachlich natürlich aber auch in Fragen der Mitarbeiterschaft oder des Aufenthaltsstatus‘.

Wie kann man dem entgegentreten?

Weichert Durch Aufklärung und Unterstützung. Und es muss vor allem den Ausbildungsbetrieben klar sein, dass die Jugendlichen zunächst ihre Ausbildung machen können – aber auch im Anschluss dem Unternehmen noch eine Zeitlang sicher zur Verfügung stehen können.

Wie wichtig sind Aktionen wie „Kein Abschluss ohne Anschluss“?

Weichert Dieses Programm ist dazu gedacht, alle Schülerinnen und Schüler bereits ab der achten Klasse an die Berufswelt heranzuführen, indem frühzeitig Berufsorientierung auch im Schulunterricht eine Rolle spielt. Auch eine Stärkenanalyse gehört dazu – Schule zeigt ja im Allgemeinen eher die Schwächen auf. Daher ist das ein sehr wichtiger Aspekt.

Wie kann man Jugendlichen allgemein berufliche Perspektiven aufzeigen?

Weichert Bei 326 dualen Ausbildungsberufen, den verschiedensten Möglichkeiten, ein duales oder gar triales Studium zu absolvieren, eine schulische Ausbildung zu durchlaufen oder unzählige Studiengänge zu belegen, braucht die Berufswahl Zeit und Unterstützung. Daher ist es wichtig, frühzeitig in die Berufsorientierung einzusteigen. Hier sind alle gefragt: Eltern, Schule und natürlich unsere Berufsberatung. Auch das Internet hält ungezählte Angebote bereit – von uns, von den Kammern, aber auch von vielen anderen Institutionen und Organisationen. Wichtig ist auch, dass die Schul-Praktika nicht als Pflicht absolviert werden, sondern die Jugendlichen sich hier tatsächlich Berufe anschauen, die sie interessieren, um vielleicht festzustellen: Ja, das ist was - oder auch nein, das hatte ich mir ganz anders vorgestellt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort