Weihnachtsgeschichten der SiebenSchreiber Wegberg Es begab sich aber zu der Zeit

Wegberg · Weihnachtsgeschichten Die Wegberger Autorengruppe SiebenSchreiber schenkt unseren Lesern anlässlich der Festtage sieben Gedichte und Geschichten. Inga Lücke zeigt erstaunliche Parallelen zwischen der heutigen und der Zeit Jesu auf – aber auch erschreckende Veränderungen, die unsere Welt im Griff haben.

 Inga Lücke von der Autorengruppe SiebenSchreiber Wegberg.

Inga Lücke von der Autorengruppe SiebenSchreiber Wegberg.

Foto: Thomas Lischker

Josef war mit seinem Weibe auf dem Weg nach Bethlehem, als die Stimme des Erzengels Anonymus aus dem Himmel rief: „Josef, Maria, wohin des Wegs? Ihr seht so erschöpft aus!“ Josef hob seinen Blick gen Himmel: „Wir müssen auf Geheiß des Kaisers Augustus nach Bethlehem. Er will alle Menschen schätzen.“ Der Erzengel mahnte sie: „Geht nicht weiter, sucht eine ruhige Herberge für Marias Niederkunft und versteckt Euch, denn diese Schätzung ist für niemanden gut außer für den Kaiser. Er will sich seiner Steuern versichern, auch von den Ärmsten. Darum widersetzt Euch!“ Maria und Josef zuckten resigniert mit den Schultern: „Wir müssen gehorchen“ und zogen weiter gen Bethlehem.

Der Erzengel Anonymus war frustriert. Sahen sie die Gefahr nicht? Oder trauten sie sich nicht, Widerstand zu leisten? Resigniert zog er sich zurück und beobachtete die Welt nur von Weitem. Doch dann, im Jahr 1983, wurde er hellhörig. Es war wieder eine Schätzung geplant, dieses Mal in Deutschland. Kindergärten würden sie errichten, wo Bedarf ist, neue Krankenhäuser und Kläranlagen bauen. All dieses versprach die Regierung. Da erhob der Erzengel seine Stimme und warnte die Menschen abermals: „Sie wollen Euch gläsern machen, damit Ihr berechenbar seid. Die Versprechungen sind ein Vorwand. Die Volkszählung ist für die Regierung gut und nicht für das Volk. Widersetzt Euch!“ Anonymus hoffte inständig, dass die modernen Menschen mehr auf ihn hören als damals Maria und Josef. Und tatsächlich: Sein Herz raste vor Freude, als er an vielen Türen einen Aufkleber fand: „Volkszählung – Nein danke“. Seine Worte haben Gehör gefunden! Als dann per Gerichtsbeschluss die Volkszählung verboten wurde, ging ein breites Lachen über sein Gesicht. Glücklich flog er in den Himmel zurück und tummelte sich dort unbeschwert zwischen den Wolken.

Nach ungefähr 30 Jahren wollte er sich zur Ruhe setzen und steuerte eine Wolke an, die sich inzwischen „Cloud“ nannte. Sie sah gemütlich aus. Doch als er auf ihr landete, packte ihn das blanke Entsetzen: Millionen Daten waren dort abgelegt, persönliche Kontaktlisten, intime Briefe, Kontostände, Gesundheitsdaten. Alles lag dort einfach so herum, völlig ungeschützt, jeder konnte sich bedienen, der den Weg zu dieser Cloud fand.

Anonymus fand heraus, dass die meisten Daten von zwei großen Herrschern, einer Suchmaschine und einem Internethändler, in die Cloud gelegt worden waren. Es gab aber auch viele Menschen aus dem Volk, die selber ihre Daten dort abgelegt hatten. Wie konnte das sein? Anonymus fragte die Menschen. Ihre Antworten erschreckten ihn: „Ich hab schließlich nichts zu verbergen!“ „Ist doch alles passwortgeschützt!“ „Beim Internetanbieter krieg ich die Sachen viel billiger als anderswo!“ „Wir leben im 21. Jahrhundert!“ Der Erzengel raufte sich die Haare. Die Menschen sind nicht weiter als zu Zeiten Kaiser Augustus’.

Es begab sich schließlich zu der Zeit, als der Internethändler Algorithmen entwickelte, die all die Menschen, die nicht marktkonform lebten, aus seiner Kundendatei entfernte. Das wäre an sich nicht schlimm gewesen. Doch inzwischen waren fast alle Einzelhändler eingegangen und diese Menschen konnten sich kaum mehr mit den notwendigen Dingen des täglichen Bedarfs eindecken. Einige fanden kostspielige Quellen auf dem Schwarzmarkt, andere schafften es, als Selbstversorger zu überleben, doch die meisten dieser Ausgesonderten mussten sich mit den Abfällen der Konsumgesellschaft begnügen, und einige verhungerten gar.

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