Notfallübung in Wegberg Szenario: Zugunglück mit 200 Verletzten

Wegberg · Rettungseinheiten aus dem Kreis Heinsberg, der Städteregion Aachen, der Stadt Krefeld sowie aus den benachbarten Niederlanden haben auf dem ehemaligen Flugplatzgelände in Wildenrath den Ernstfall geprobt.

 Bei einer Großeinsatz-Übung in Wildenrath wurden die transportlogistischen Abläufe geübt und beobachtet – ohne Patienten-Statisten.

Bei einer Großeinsatz-Übung in Wildenrath wurden die transportlogistischen Abläufe geübt und beobachtet – ohne Patienten-Statisten.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

Fritjof Brüne ist ein Mann der klaren Worte. „Ein paar Tote wird es schon geben“, sagt der Vertreter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz mit Sitz in Bonn. Er geht davon aus, dass zehn der insgesamt 200 Verletzten sterben werden. Der Dozent für Krisenmanagement und Notfallplanung gibt diese Fakten unmissverständlich an seine Zuhörer weiter – Rettungssanitäter, Feuerwehrkameraden, Notfallseelsorger, Ärzte, Polizisten und Mitarbeiter der Heinsberger Kreisverwaltung.

Das Szenario wirkt gespenstisch. Die Vorgabe: ein schweres Zugunglück. Seit 2017 wird ein solcher Großeinsatz einmal im Jahr geprobt. Bei der „Premiere“ vor zwei Jahren in Euskirchen, im darauf folgenden Jahr in Leverkusen. Diesmal kommen die Rettungskräfte für ihre groß angelegte Notfallübung im Wegberg-Oval zusammen. Auf dem ehemaligen Flugplatzgelände in Wildenrath wurden alle dort ansässigen Firmen und Betriebe angeschrieben und im Vorfeld auf den aufsehenerregenden Testlauf hingewiesen.

Ein so genannter „Massenanfall“ mit 200 Verletzten erfordert einen möglichst reibungslosen Ablauf. „Wir wollen schneller werden“, erklärt Fritjof Brüne. Das erarbeitete Patiententransportsystem solle unter realen Bedingungen geprobt werden. Rund 50 Blaulichtfahrzeuge parken am Straßenrand und warten auf das Startsignal der Einsatzleitung. Einheiten der Rettungsdienste des Kreises Heinsberg, der Städteregion Aachen, der Stadt Krefeld sowie aus den benachbarten Niederlanden sind angerückt, um den Ernstfall zu proben. Zum ersten Mal, so Fritjof Brüne, ist die Beteiligung international. „Wir arbeiten auch im Alltag zusammen“, begründet er diese Entscheidung zur grenznahen Zusammenarbeit.

Der reibungslose und möglichst zügige Abtransport in geeignete Kliniken nach der medizinischen Erstversorgung vor Ort steht im Vordergrund der gemeinsamen Rettungsübung. Insgesamt acht Patientenablagen werden eingerichtet, jeweils vier pro Zugseite. Das Verteilen der Verletzten in einer so großen Anzahl sei „ein schwieriger und sensibler Bereich“, so Dirk Hartmann, der Leiter der Leitstelle des Kreises Heinsberg und organisatorischer Leiter der Übung. Schon seit Oktober hat er das Horror-Szenario mit 200 Verletzten gründlich vorbereitet.

Die Patienten treten nur auf handlichen, in Plastik eingeschweißten Karten in Erscheinung. Zu groß wäre der personelle Aufwand, wenn die Vorgabe mit realen Personen erfüllt werden würde. Die Karten enthalten wichtige Informationen wie Alter, Geschlecht, Angaben zu den Verletzungen und zum aktuellen Zustand. Grüne, gelbe und rote Klebepunkte machen auf einen Blick deutlich, wie akut die Situation ist. Astrid Wolf hält einen kleinen Stapel der Patientenkarten in der Hand. Die 39-Jährige engagiert sich ehrenamtlich bei den Maltesern, ist Gruppenführerin der dritten Einsatzeinheit im Kreis Heinsberg. Als die Lehrerin am Geilenkirchener Berufskolleg für Wirtschaft vor etwa vier Jahren innerhalb einer Woche gleich dreimal den Notarzt rufen musste, kam ihr der Gedanke, sich zur Rettungssanitäterin ausbilden zu lassen. Diese Entscheidung hat sie nie bereut. Obwohl Astrid Wolf in Vollzeit unterrichtet. „Ich kann selbst bestimmen, wie oft ich an den Wochenenden im Einsatz bin“, sagt die verbeamtete Lehrerin. „Jetzt im Mai ist diese Übung hier wegen des Abiturs mein einziger Einsatz.“ Nicht nur im Geilenkirchener Berufskolleg kommt den Schülerinnen und Schülern ihre Ausbildung zur Rettungssanitäterin zugute. Auch bei Reitturnieren kann Pferdesportfan Astrid Wolf im Ernstfall ihre medizinischen Kenntnisse im Sanitätsdienst anwenden.

124 Schläge, der Puls ist kräftig. Im linken Oberarm des 14-jährigen Jungen befindet sich laut Patientenkarte ein Fremdkörper aus Kunststoff. „Das kann zum Beispiel ein Stück Armlehne aus dem Unfallzug sein“, erläutert Wolf. Schulterfraktur links, der Arm ist ausgekugelt. Dazu starke Schmerzen. Auf der nächsten Karte sieht sich Astrid Wolf zunächst die biometrischen Daten an. Blaue Augen, weiße Haare, 174 Zentimeter groß. Ein Mann, 72 Jahre alt. Offene Fraktur des linken Unterarms, eine blutende Platzwunde am Kopf, dazu Quetschungen der linken Hand. Der Zugreisende ist aufgeregt, hat wie der 14-jährige Junge starke Schmerzen. Auch sein Puls ist kräftig, 122 in der Minute. „Klar, nach einem solchen Unglück ist niemand ruhig und gelassen“, weiß Astrid Wolf.

Etwa fünf Minuten Zeit haben Dirk Hartmann als organisatorischer Leiter der Übung und Krisenmanagement- und Notfallplanungsexperte Fritjof Brüne pro Abtransport einkalkuliert. Jedes beteiligte Rettungsfahrzeug werde etwa sechs oder sieben Mal fahren. Pro Gebietskörperschaft sind vier Rettungswagen, vier Krankenwagen sowie zwei Ärzte angerückt. Zehn Patienten können von einer solchen Einheit aufgenommen und transportiert werden. „So schnell wie möglich zurück zur Individualmedizin in den Kliniken ist oberstes Ziel der groß angelegten Notfallübung“, sagt Astrid Wolf.

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