Reetdachdecker in Harbeck Norddeutsche auf Wegberger Dächern

Wegberg · Einmal im Jahr macht sich ein Handwerker-Trupp aus Schleswig-Holstein auf den Weg Richtung Süden, um am Niederrhein Reetdächer auszubessern. In Wegberg gibt es besonders viele davon.

 Die Dachdecker kurz vor Abschluss ihrer Arbeiten. Bianca Eiberg wirft vom Gerüst aus einen Reetbund nach oben.

Die Dachdecker kurz vor Abschluss ihrer Arbeiten. Bianca Eiberg wirft vom Gerüst aus einen Reetbund nach oben.

Foto: Ruth Klapproth

Die Sonne knallt an diesem heißen Juni-Nachmittag mit voller Wucht auf das fast fertig gedeckte Reetdach im Wegberger Dorf Harbeck. Oben, in mehr als zehn Metern Höhe, schuften eine Handvoll Nordmänner und eine Nordfrau mit hochroten Köpfen. Wenn sie auf dem Dach stehen, fällt kaum ein Wort. „Bei dem Wetter reflektiert das Riet die ganze Hitze. Das wird unvorstellbar warm da oben“, sagt Hans-Hermann Ohm. Zum Gespräch hat sich der Chef in den Schatten im Hof des fein restaurierten Anwesens in Harbeck gesetzt. Er kennt sich hier aus: Ohm ist Obermeister der Schleswig-Holsteiner Reetdachdecker. Einmal im Jahr machen er und sein Bruder Reimer sich mit ihrer Dachdecker-Crew aus dem Kreis Dithmarschen auf dem Weg an den Niederrhein, um hier an Reetdächern zu arbeiten.

Mit Reet – oder Riet, wie Ohm sagt – bedeckte Häuser gibt es im Norden viele, hier am Niederrhein kaum, und dementsprechend auch fast niemanden, der sie bauen kann. „Ich bin 1997 über viele Ecken mal in Goch gelandet, um dort ein Dach zu machen“, erzählt der 66-Jährige, der im kommenden Jahr in den Ruhestand gehen will. Seine Arbeit sprach sich herum, seitdem hat er sich einen Kundenstamm aufgebaut, der vom Kreis Kleve bis nach Wegberg reicht, wo es besonders viele mit dem Schilfrohr bedeckte Dächer gibt. „Hier in der Region habe ich knapp 20 Kunden“, sagt Ohm. Drei davon besucht er dieses Jahr.

Die meisten Reetdächer in Wegberg gibt es im Dörfchen Schwaam. Auch der Gasthof Timmermanns, in dem die Dachdecker unterkommen, ist mit Schilf bedeckt. Das hat Tradition, wie die Inhaberin Renate Timmermanns erklärt: „Hier gab es früher viele Bauernbetriebe. Das Reet wuchs damals noch an der Schwalm, da hat man dann halt das Material genommen, das da war. Es war ursprünglich also der Armut geschuldet.“

Das Dach in Harbeck ist in diesem Jahr das größtes Projekt der Dachdecker, für die knapp 230 Quadratmeter brauchen sie zwei Wochen. Fällig wird dafür ein guter fünfstelliger Betrag. Auf dem Hof, auf dem noch vor wenigen Tagen knapp 13 Tonnen abgepackt in vier Kilo schwere Bünde lagen, riecht es nach Heu und nach Sonnenmilch. Immer wieder kommt ein Arbeiter die Leiter runter, um die geschundenen Arme einzucremen. Auch den Chef verraten die vielen kleinen Male und Narben auf den Unterarmen. „Das Riet ist messerscharf“, sagt der mehr als 30 Jahre jüngere Florian Kern, „aber man gewöhnt sich dran.“

Das Dach in Harbeck musste abgedeckt werden, weil es mit einem Pilz befallen war. Das kann passieren, erklärt Ohm: „Wir haben es hier mit Naturmaterial zu tun, da steckt leben drin. Da sind Insekten drin, da können sich Moos und Algen bilden.“ Umso wichtiger sei es, die Dächer regelmäßig zu warten: „Das ist wie mit den Zähnen. Wehret den Anfängen.“ Zuerst deckten die Arbeiter das alte Reet ab und brachten es Lkw-weise auf die Kompostanlage. Von unten nach oben wird das Schilfmaterial dann auf Holzleisten gelegt, mit Metallhaken befestigt und zurechtgeklopft. Dafür benutzen die Reetdachdecker ein schaufel-ähnliches Gerät, das Ohm „Drief“ nennt – typisch norddeutsch mit gerolltem R. Sie schneiden das Reet nur an einer Stelle – ganz oben im First, bevor sie mit Ziegeln und Beton eine Kante mauern.

In den zwei Wochen verarbeiten die Dachdecker mehr als 3000 Reetbünde. Jeden einzelnen wirft ein Arbeiter nach oben, ein anderer fängt ihn einhändig. Das sieht schwer aus, läuft für einen erfahrenen Dachdecker aber wie im Schlaf. „Du musst halt ein Teamplayer sein in diesem Beruf. Wenn du dich nicht auf deine Leute verlassen kannst, hast du keine Chance“, sagt Florian Kern.

Zu den jüngsten in der Crew gehört Bianca Eiberg. Auch sie wirft die Reetbündel mit ihren tätowierten Armen locker aus der Hüfte nach oben. Ihre Ausbildung hat sie gerade erst abgeschlossen – ihrer Meinung nach übt sie ihren Traumjob aus. Um ihn zu lernen, fuhr Eiberg zur Berufsschule jedes Mal zwei Stunden nach Lübeck. „Wir waren nur vier Leute in meiner Klasse. Den Job will heute fast keiner mehr machen. Denn sind wir mal ehrlich, im Endeffekt das ist eine Scheiß-Arbeit“. Schnell fügt sie lachend an: „Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Und so ein Alltagsjob ist doch auch langweilig.“ Dass sie als Kollegen nur Männer hat, ist ihr egal. Einen Unterschied macht auch Hans-Hermann Ohm nicht: „Ob Mann oder Frau, auf dem Dach sind alle gleich.“

Runter vom Dach kommen die Handwerker nicht nur zum Eincremen, sondern auch zum Rauchen – das ist auf dem Dach strengstens verboten. „Mein Opa hat früher noch Pfeife dabei geraucht“, erzählt Ohm – seinen Betrieb gibt es seit 1951. „Heute macht man das nicht mehr.“ Dabei würde ein Reetdach weitaus schlechter brennen als man denkt: „Bis das einmal richtig Feuer fängt, muss schon viel passieren. Aber wenn ein Rietdach einmal in Flammen steht, dann ist da in der Regel nichts mehr zu retten.“

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