Inflation und Aufstände Wegberg im Krisenjahr 1923

Wegberg · Eine gigantische Inflation, Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und Aufstände von Nazis und Kommunisten: Das Leben in der Mühlenstadt war vor 100 Jahren nicht leicht. Historiker Heribert Schüngeler berichtete davon.

Historiker Heribert Schüngeler zeigte bei seinem Vortrag in der Mühle die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe auf, die 1923 in die Krise führten.

Historiker Heribert Schüngeler zeigte bei seinem Vortrag in der Mühle die politischen und wirtschaftlichen Hintergründe auf, die 1923 in die Krise führten.

Foto: Laaser, Jürgen (jl)

Unter reger Beteiligung stellte Hermann-Josef Heinen, Vorsitzender des Historischen Vereins Wegberg, am Donnerstag in der Wegberger Mühle den Referenten Heribert Schüngeler vor. Er skizzierte in groben Zügen die Ausgangslage der Hyperinflation des Krisenjahres 1923. Aufstände von Nazis und Kommunisten, galoppierende Inflation, Verarmung; und die Demokratie der jungen Weimarer Republik in Gefahr. An einer Landkarte auf der großen Leinwand zeigte Schüngeler die damals im Westteil des Deutschen Reiches besetzten Gebiete auf.

Am Niederrhein war das Königreich Belgien der Besatzer. So erfuhr man, dass jede Gemeinde in diesem Gebiet „Geiseln“ zu benennen hatte, die, falls sich jemand gegen die Besatzer auflehnen würde, sofort stellvertretend für den vielleicht nicht greifbaren Täter belangt werden konnten. So wurde, wie durch den Stadtarchivar Thomas Düren zu erfahren war, 1919 auch in Wegberg eine Liste von etwa 20 Personen angelegt, „welche gegebenenfalls als Geiseln genommen werden können“.

Es gab eine allgemeine Sperrstunde von 22 bis 5 Uhr, die Besatzungsoffiziere und ihre Fahne mussten von den Deutschen gegrüßt werden. Als schließlich Frankreich die Reparationszahlungen zu wertlos erschienen, besetzte es das Ruhrgebiet mit 100.000 Soldaten, um dort direkt Leistungen in Form von Kohle und Stahl einzutreiben. Aber auch die Kohleförderungen der Hückelhovener Zeche Sophia-Jacoba waren beschlagnahmt.

Das Deutsche Reich wehrte sich mit dem „Passiven Widerstand“, die Produktion dort und im ganzen besetzten Gebiet kam zum Erliegen. Allerdings gab es vereinzelt Aufstände der Arbeiter gegen die Besatzer, so beim „Essener Blutsonntag“ auf dem Firmengelände von Krupp, bei dem 13 Arbeiter starben. Viele der deutschen „Befehlsverweigerer“, die in passivem Widerstand die Arbeit verweigerten, wurde zur Strafe innerhalb des Reiches als „Ausgewiesene“ in die unbesetzten Gebiete des Reiches deportiert.

In dieser ebenso aufgeheizten wie hoffnungslosen Situation war besonders in den französisch besetzten Gebieten der Gedanke einer „Rheinischen Republik“ entstanden: abgekoppelt von Berlin, aber positiv Frankreich und Belgien zugewandt. Eine Art kleinerer Pufferstaat, der sich so endlich aus der Besatzung und der Inflation würde befreien können. Viele ehrlich für diese Sache Begeisterte mischten sich mit Wütenden und Enttäuschten, und sogar der damalige Kölner Oberbürgermeister, Konrad Adenauer, sympathisierte mit der Idee einer „Rheinischen Republik“.

Offensichtlich sollte diese durch gewaltsame Besetzungen der Rathäuser und Landratsämter installiert werden. Denn die Separatisten setzten jedoch zuerst einmal nicht auf Wahlen, sondern auf Terror und Gewalt. So versuchten sie hier, die „Sechs-Bogen-Brücke“ über die Rur in Brachelen zu sprengen. Weil jedoch „ein Hund“, so Schüngeler, „anschlug, Aufmerksamkeit erregte und auch die Bombe nicht zündete“, blieb die Brücke unzerstört. Doch gelang es zum Beispiel in Aachen 2000 Separatisten, für die „Rheinische Republik“ einige Amtsgebäude zu besetzen und dort ihre grün-weiß-rote Fahne zu hissen. Ihren designierten Ministern und zum Teil recht brutal mit Waffengewalt agierenden Anführern gelang es jedoch nicht, genau abgestimmt loszuschlagen. Auch die Bevölkerung wehrte sich und schlug die bewaffneten Separatisten oft in die Flucht: der Versuch einer „Rheinischen Republik“ war gescheitert.

Die Währungsreform ab Oktober 1923 brachte schnell Ruhe und Zuversicht in die Bevölkerung, Reichskanzler Gustav Stresemann setzte auf einen Ausgleich mit Frankreich. Ein Besucher zeigte originale Geldscheine aus der Inflationszeit vor: mit Nennwert von zig Milliarden, aber fast keiner Kaufkraft. Ein weiterer Zuhörer betonte, dass die Hyperinflation des Jahres 1923 ja nicht vom Himmel gefallen sei, sondern auch von der damaligen Reichsregierung gewollt war, damit besonders die Siegermacht Frankreich keine Freude an den Reparationen haben sollte.

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