Gedenken im Grenzland Fußmarsch zum Gedenken an NS-Opfer

Niederkrüchten/Dalheim · Ein Erschießungskommando ermordete vor 75 Jahren 14 Menschen. Rund 400 Frauen und Männer erinnerten jetzt an das Unrecht.

 Zum 75. Mal jährte sich der Mahnmarsch in Erinnerung an die 14 Toten, die die Wehrmacht erschoss. Rund 300 Menschen zogen mit.

Zum 75. Mal jährte sich der Mahnmarsch in Erinnerung an die 14 Toten, die die Wehrmacht erschoss. Rund 300 Menschen zogen mit.

Foto: Axel Küppers

Als Sechsjähriger musste Leo Steuns mit ansehen, wie sein Vater Mathieu mit knapp 3000 weiteren Männern in Roermond von den Nazis deportiert wurde. Heute ist der Niederländer 81 Jahre alt und steht vor der Hartkerk an der Monseigneur-Driessen-Straat in Roermond. Rund 300 weitere haben sich dort vormittags an diesem sonnigen 30. Dezember eingefunden. Gleich startet der Fußmarsch Richtung Elmpt, zu dem das „Comité Voettocht 30 December“ eingeladen hat.

„So viele waren es noch nie“, sagt Victor Cillekens staunend, der Comité-Vorsitzende. Zum 75. Mal jährt sich der Mahnmarsch in Erinnerung an die 14 Toten, die die Wehrmacht in der Nacht zum 27. Dezember 1944 erschossen hat. Das Erschießungskommando diente einzig und allein dem Zweck, die Bevölkerung einzuschüchtern und möglichst viele zum Arbeitsdienst Richtung Ruhrgebiet zu mobilisieren. Die Nazis waren drei Tage später selbst überrascht, dass es 3000 „Freiwillige“ werden sollten.

 „Mein Vater ist während des Fußmarsches Richtung Dülken geflohen und in Dalheim bei einer Familie untergekommen“, erzählt Leo Steuns während der Wanderung. Noch während des Kriegs zog die Familie – der Bruder und die Mutter – ebenfalls dorthin, fand bis Kriegsende Unterschlupf, nur ein paar Meter von der niederländischen Grenze entfernt. Dort führten noch die Nazis ihr fürchterliches Regiment. „Deshalb konnten wir erst zurück, als der Krieg zu Ende war“, berichtet Steuns, der heute in Maastricht lebt. Am „Voettocht“ – auf Deutsch Fußmarsch – einmal teilzunehmen, das nimmt er sich seit Jahren vor. Nun, zum Jubiläum, hat der frühere Zigarrenfabrikant es endlich einmal geschafft.

 Als Sechsjähriger musste Leo Steuns mit ansehen, wie sein Vater mit 3000 Männern in Roermond von den Nazis deportiert wurde.

Als Sechsjähriger musste Leo Steuns mit ansehen, wie sein Vater mit 3000 Männern in Roermond von den Nazis deportiert wurde.

Foto: Axel Küppers

„Ich erzähle das meinen vier Kindern und sechs Enkeln, um die Erinnerung wach zu halten“, berichtet Steuns nach knapp sieben Kilometern Fußmarsch, als das Landhotel Bosrijk auf der Grenze bereits in Sicht ist. Auf halber Strecke erinnern sich die Fußpilger am Monument „Vergeten Kinderen van Spik en Maalbroek 1945“ an die elf Kinder, deren Leben kurz vor Kriegsende durch eine Explosion von Kriegsmunition jäh ein Ende fand. Im Anschluss an eine kurze Ansprache legt Grit Houtackers vom Comité Voettocht einen Kranz nieder.

Nach einer Stärkung im Hotel Bosrijk geht es 500 Meter tiefer in den Elmpter Wald, wo die Abschlusskundgebung am 1996 von Niederkrüchtener Bürgern errichteten Gedenkstein Lüsekamp stattfindet. Dort verliest Victor Cillekens die Namen der 14 Erschossenen. „Wir finden uns hier zum 23. Mal ein, um zu mahnen, aber auch, um unseren Respekt, unsere Wertschätzung und unsere Ehrerbietung zum Ausdruck zu bringen“, sagt der Niederkrüchtener Bürgermeister Kalle Wassong vor mittlerweile gut 400 Zuhörern.

Unter ihnen ist auch Jo Thomassen. Der 92-Jährige ist einer von vier noch Lebenden, die am 30. Dezember 1944 zu Fuß von der Roermonder Hartkerk nach Dülken verschickt wurden. „Wir waren für die 40 Kilometer 16 Stunden unterwegs, es hatte stark geschneit“, erinnert sich der noch sehr rüstige Roermonder, der bis zur Pensionierung als Finanzbeamter gearbeitet hat. Auf der ehemaligen Rennbahn in Dülken warteten in diesem letzten Kriegswinter 1944 bereits sechs Geschütze auf die Männer aus Roermond. „Wir dachten zunächst, jetzt werden wir erschossen“, so Jo Thomassen. Doch die Nazis brauchten die Arbeitskraft der Kolonne, um die Rüstungsindustrie gegen Ende des Kriegs in Betrieb zu halten. „Ab Dülken wurden wir in Viehwaggons nach Wuppertal-Varresbeck gebracht“, erinnert sich Thomassen, der heute acht Enkel und acht Urenkel hat. Von dort aus ging es in die Betriebe. „Ich habe mich als Bäcker gemeldet. Da gab es schließlich immer etwas zu essen.“

Er lächelt. Und mit ihm die drei ebenfalls hochbetagten Weggefährten, die zur Mahnstunde am Lüsekamp gekommen sind und den Nachgeborenen erzählen, was Krieg, Vertreibung, Hunger, Flucht und Terror bedeuten. Ein Wort macht die Runde: Versöhnung.

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