Viersen Weniger Straftäter fliehen aus LVR-Klinik

Viersen · Die meisten Straftäter, deren Flucht aus der LVR-Klinik die Polizei meldet, entweichen während einer Lockerungsmaßnahme – so auch der 46-Jährige, der am Wochenende gesucht wurde. Warum die Lockerung dennoch wichtig ist, erklärt ein Psychologe der Forensik.

Die meisten Straftäter, deren Flucht aus der LVR-Klinik die Polizei meldet, entweichen während einer Lockerungsmaßnahme — so auch der 46-Jährige, der am Wochenende gesucht wurde. Warum die Lockerung dennoch wichtig ist, erklärt ein Psychologe der Forensik.

Die gute Nachricht zuerst: Es fliehen weniger Menschen, die im Maßregelvollzug der LVR-Klinik in Viersen behandelt werden. 2013 waren fünf Personen "entwichen". So nennt es der Landschaftsverband Rheinland (LVR), wenn ein Patient so lange nicht am vereinbarten Ort eintrifft, bis öffentlich nach ihm gesucht wird. Nach Erkenntnissen von Klinik und Polizei haben diese fünf Männer während ihrer Abwesenheit keine Straftaten begangen. Sie kamen selbst zurück, stellten sich der Polizei oder wurden gefasst. Auch der 46-Jährige, nach dem die Kripo ab Freitag suchte, ging zurück in seine von der LVR-Klinik betreute Wohnung. Dort ließ er sich widerstandslos festnehmen.

Also alles in Ordnung? Vielleicht.

Denn dass weniger Patienten entweichen, hat auch mit der Vorsicht des Klinik-Personals zu tun. "Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass wir die Gefährlichkeit der Patienten überschätzen", erklärte Dr. Klaus Elsner jüngst bei einem Vortrag in der LVR-Klinik. Mit diesem "wir" bezog er sich nicht allein auf die Mitarbeiter der LVR-Klinik Viersen, sondern auf all diejenigen, die mit dem Maßregelvollzug in Deutschland zu tun haben: also Richter, Staatsanwälte, Psychiater und Psychologen.

Elsner ist selbst Psychologe und arbeitet als therapeutischer Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie II in der Süchtelner LVR-Klinik. Die Liste der Straftaten der Patienten in der Forensik flößt zunächst einmal Unbehagen ein: 18 Patienten hatten wegen einer Tötung vor Gericht gestanden. Es ordnete die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik an, da weitere Straftaten zu erwarten waren (siehe Kasten). 61 Patienten hatten Körperverletzungen begangen, 24 sexuellen Missbrauch, 14 Vergewaltigungen, 15 Raub, 14 Brandstiftungen, einer Exhibitionismus und zwei Eigentumsdelikte.

Zur Strafe sind die Patienten aber nicht in der Klinik. Stattdessen werden damit zwei Ziele verfolgt. Eins davon ist der Schutz der Bevölkerung: Entsprechend wird ein Patient, der neu nach Süchteln kommt, zunächst in einen hochgesicherten Bereich gebracht. Dort stellen die Ärzte eine Diagnose und klären, wie es zur Straftat gekommen war. "Wenn wir nicht wissen, warum ein Patient etwas gemacht hat, können wir ihn nicht alleine rauslassen", sagte Elsner. Genau dort liegt das zweite Ziel: Die Patienten so weit zu behandeln, dass sie nicht mehr gefährlich sind und entlassen werden können. Klappt die Zusammenarbeit mit den Patienten also gut, können sie in einen weniger gesicherten Bereich umziehen. Dann orientieren sie sich immer weiter nach außen. Bei günstiger Prognose dürfen sie zunächst in Begleitung das Klinikgelände verlassen, später unbegleitet, dann über Nacht, und schließlich wird der Maßregelvollzug zur Bewährung ausgesetzt. Verantwortlich ist die ärztliche Abteilungsleitung, die die zuständigen Staatsanwaltschaften an den Entscheidungen beteiligt.

Doch immer seltener kommen Ärzte, Richter und andere Beteiligte zu der Einschätzung, dass Patienten nicht mehr gefährlich sind. Waren in Kliniken des LVR 1994 noch 555 forensische Patienten untergebracht, war die Zahl bis 2012 auf 1285 Patienten gestiegen. Auch die Dauer der Unterbringung steigt immer weiter an, bundesweit.

Elsner glaubt nicht, dass die Gesellschaft kränker geworden ist. Er beobachtet stattdessen einen hohen Kostendruck im Bereich Psychiatrie. Dieser führe dazu, dass einige psychisch Kranke nicht so behandelt werden, wie sie es brauchen, und deshalb zu Straftätern würden. Zusätzlich sieht er eine Orientierung in Richtung Sicherheit. "Sicherheit — so sagen die Politiker — ist ein hohes Gut", sagte er. Psychiater und Gerichte befürchteten oft, Lockerungen zuzulassen, obwohl ein Patient noch gefährlich ist. Dabei machten sie mitunter den umgekehrten Fehler: Nämlich jemanden weiter einzusperren, von dem keine Gefahr mehr ausgeht.

(RP)
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