Schwalmtal Ein Antiquariat in einer alten Bäckerei

Schwalmtal · Die Schwalmtalerin Ursula Freitag entstammt einer alten Bäckerdynastie. In den Räumen betreibt sie heute ein Antiquariat. Sie kauft die Bücher nicht an — die bringen die Menschen mit. Was sie mehrfach hat, spendet sie.

 Ursula Freitag betreibt das Antiquariat in Waldniel. Einst war es eine Bäckerei, heute stehen in den Räumen Regale voller Bücher.

Ursula Freitag betreibt das Antiquariat in Waldniel. Einst war es eine Bäckerei, heute stehen in den Räumen Regale voller Bücher.

Foto: Knappe, Joerg (jkn)

Es ist kalt. Bitterkalt. Licht fällt aus dem Schaufenster. Es wärmt die schmale Straße nicht. Auf einem Aufsteller ein Gedicht von Christian Morgenstern: Novembertag. Am Eingang hängt eine Laterne. Die flackernde Kerze lockt den Besucher. Im Laden verzaubern Engel aus feinem Glas den Raum. Und überall Bücher. In deckenhohen Regalen. Ein verwunschener Ort mitten im schon winterlichen Waldniel.

So mögen Märchen beginnen. Und doch ist alles wirklich. Es ist das Antiquariat Freitag an der Marktstraße. Schon der Name Freitag klingt wie erfunden. So wie Herr Taschenbier aus der Geschichte „Das Sams“ oder wie Frau Waas, die Ziehmutter von Jim Knopf. Unwillkürlich denkt man an den Guglhupf von Frau Waas. Und steckt auch schon mitten drin in der Geschichte.

Nicht in der von Jim Knopf, sondern in der Familiengeschichte von Ursula Freitag. Denn ihr Antiquariat war mal eine Bäckerei. Über viele Generationen sogar: „Der älteste Keller meines Elternhauses ist auf 1500 datiert“, sagt die 57-Jährige. Eine wahre Bäckerdynastie. Der belegte Stammbau reicht bis Anfang des 18. Jahrhunderts zurück. Von der Bäckerei sind die Räume geblieben – und die Registrierkasse mit Kurbel. Und die Waage. „Damit habe ich schon als Kind das Schwarzbrot zu je einem halben Pfund abgewogen“, erzählt Usch; alle nennen Ursula Freitag nur Usch.

Heute ist die unscheinbar daher kommende Waage immer noch wichtigstes Utensil in ihrem Laden. Ursula Freitag wiegt damit nämlich die gelesenen Bücher ab, die ihre Kunden kaufen wollen: „Das Kilogramm zu sechs Euro. Ich finde, das ist ein ehrlicher und gerechter Preis. Diese Preisfindung können auch meine Kunden nachvollziehen.“

Angefangen hat die Geschichte mit dem Antiquariat vor etwa zehn Jahren. Das Ladenlokal stand leer. Und Ursula Freitag wollte was tun, dachte darüber nach, was sie denn am besten könne. Lesen und beten, sei ihr in den Sinn gekommen. Mehr scherzhaft. „Aus dem Scherz ist dann aber der Handel mit gelesenen Büchern und mit Devotionalien geworden“, sagt sie. Mit geschenkten Büchern, mit „fünf Christopherus Plaketten und drei Rosenkränzen“ habe sie begonnen: „Nun habe ich das gefühlt größte Sortiment jenseits von Kevelaer.“

Das Ladenlokal wurde bald zu klein, der Flur kam hinzu. Dann das Hinterzimmer, ehemals elterliches Wohnzimmer, schließlich das „Kabäuskes“. Der bereits seit 200 Jahren so genannte Raum beherbergt die antiquarischen Schätze, darunter Ledergebundenes, die schmalen Büchlein aus der Insel-Bücherei, aber auch eine antiquarische Ausgabe von „Das Findelkind von Gladbach“ (1954). Alles ordentlich einsortiert, selbstverständlich alphabetisch geordnet. Wie viele Bücher sie im Bestand hat, weiß sie nicht, schätzt aber, dass es Tausende sind. Viele davon noch in Kartons im Lager.

Ein wundersamer Laden voller Erinnerungen, Devotionalien und Bücher, Bücher, Bücher. Neben dem Neubuchgeschäft vor allem gelesene: „Den Begriff ,gebraucht‘ mag ich nicht.“ Usch Freitag kauft indes keine Bücher an: „Die bringen die Menschen mir. Sie sind froh, dass sie sie nicht wegwerfen müssen.“ Einen Ankauf könnte die Waldnielerin auch gar nicht finanzieren, dazu seien die Preise für gelesene Bücher schon lange tief im Keller. Was sie mehrfach hat, gibt sie gerne weiter, beispielsweise an eine Behinderteneinrichtung.

Der warme Holzton der Regale, das gedämpfte Licht, der so ganz eigene Geruch nach Büchern, die säuberlich und dicht an dicht aneinander gereihten Buchrücken, die Sortierung nach Genres wie Krimi, gehobene Literatur, Reisen, Prosa, Heimatbücher, Schätze, Märchen oder Karl May, all das entfaltet einen Sog, der den suchenden Sammler unbemerkt immer tiefer in diesen verschrobenen und verwunschenen Ort zieht. Und das ist ja genau das, was diese Jäger wollen, eintauchen in eine Welt, die wie keine andere von den flüsternden Lockungen und Erzählungen, von den Illusionen, Träumen und Wünschen der Autoren lebt. Und die der Leser nur zu gerne zu seiner eigenen machen will. Die Schönheit des geschriebenen Wortes. Die Zeit steht still.

Auch Ursula Freitag selbst entdeckt immer wieder neu in diesem von ihr so achtsam eingerichteten Mikrokosmos: „Ich habe ja Zugriff auf so Vieles. Ich mochte Martin Suter nicht. Hatte aber schon viel über ihn gehört. Dann brauchte ich mal schnell was, das in meine Handtasche passte und nicht zu schwer war“, sagte sie Und schon hatte sich wieder einmal ein Vorurteil abgebaut.

Ursula Freitag trägt nicht nur das Bäcker-Gen in sich, sie lebt auch den Dienstleistungsgedanken: „Durch mein Neubuchgeschäft kann ich jedes innerhalb kürzester Zeit besorgen. Und bei den antiquarischen Sachen helfen mir manchmal Kollegen. Ich lasse niemanden aus dem Laden gehen, ohne dass ich eine Lösung für seine Frage oder sein Problem anbieten kann“, berichtet sie. Und sie pflegt die Höflichkeit des Kaufmanns: „Ich frage bei der Herausgabe des Wechselgeldes: darf ich Ihnen das in die Hand geben? Ich finde, das gehört sich so.“

Ein kleines Märchen, dieses Antiquariat. Fehlen nun nur noch die Schneeflocken, die sich sanft auf die Dächer des kleinen Ortes legen.

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