Vortrag in Viersen über ChatGPT & Co. Wenn die KI den Witz nicht versteht
Viersen · In der Reihe „Erasmus denkt“ beleuchtete Manfred Schneider vom Germanistischen Institut der Uni Bochum die Frage, ob das Lesen von Literatur noch wichtig ist in einer Zeit, in der die Nutzung künstlicher Intelligenz wie ChatGPT an der Tagesordnung ist.
Die Plätze in der Aula des Erasmus-von-Rotterdam-Gymnasiums in Viersen sind besetzt. Schüler der Jahrgangsstufen 12 und 13 haben sich eingefunden, um einem Vortrag mit dem Titel „Sachma Tschätdschipidi, wat kütt alles im ,Faust‘ vor?“ zu lauschen. Nach den Grußworten von Schulleiter Christoph Hopp und dem Initiator des Veranstaltung, Caspar Burkhard-Meier, hinterfragt Manfred Schneider von der Universität Bochum, ob das Lesen von Literatur, beispielsweise von Goethes „Faust“, überhaupt noch nötig ist. Die Diskussionen um das Für und Wider künstlicher Intelligenz seien in aller Munde, sprach- und textbasierte Chatbots würden gerade im Alltag von Schülerinnen und Schülern immer mehr an Bedeutung gewinnen, erklärte der Professor. Doch heiße dies nicht, dass das, was die künstliche Intelligenz liefere, mit dem gesunden Menschenverstand und den persönlichen Fähigkeiten, beispielsweise Ironie und Zweideutigkeit von Wörtern wahrzunehmen, konkurrieren könne.
Schneider hält fest, dass unter ,Intelligenz‘ die Fähigkeit gemeint sei, Probleme zu lösen, indem „dazwischen gelesen“, sprich: etwas erkannt und verstanden werde. In diesen Zusammenhang setzt er das Lesen und geht auch auf den verwandten Begriff der Auslese ein. „Lesen heißt Unterscheiden“, sagt Schneider, egal ob damit etwa das Sortieren „guter und schlechter Linsen“ im Märchen von Aschenputtel gemeint sei, die Weinlese, bei der reife von unreifen Früchten getrennt werden oder eben auch das Lesen von Buchstaben, die aneinandergereiht Wörter und damit einen bestimmten Sinn ergeben. Der Literatur-Professor gibt zu: „Sowohl die Weinauslese als auch das Lesen an sich werden heute oft von Maschinen erledigt.“ Es stelle sich aber die Frage, ob eine künstliche Intelligenz wie das Dialogsystem ChatGPT auch in der Lage sei, zu unterscheiden. „Das Wunder der Sprache besteht darin, dass wir aus einem kleinen Vorrat von Lauten eine unbegrenzte Menge von Sinneinheiten und Wörtern kombinieren können“, erklärt Schneider und fasst zusammen, dass „sprachliche Mitteilungen anfällig sind für Missverständnisse, Täuschungen und Irrtümer“. Stelle man ChatGPT die Frage, was es mit dem Witz „Treffen sich zwei Jäger im Wald. Beide tot!“ auf sich habe, setze sich das System zwar mit der Aufgabenstellung auseinander. Es spucke aber nicht mehr aus als das Auffinden einer unerwarteten Wendung, das Fehlen einer Pointe und der bloßen Feststellung, dass zwei Jäger tot sind, obwohl ein Treffen im Wald doch eigentlich nicht zum Ableben ebenjener führen sollte. „Die KI ist also humorlos!“, resümiert Schneider. Sie könne nicht unterscheiden zwischen Wörtern, die zwar gleich klingen, aber oft verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie gebraucht werden.
Mit einem Augenzwinkern stellt Schneider eine These auf, die er anhand weiterer Beispiele untermauert und die die Zuhörer schmunzeln lässt, obwohl jeder weiß, dass sie eigentlich nicht lustig ist: Künstliche Intelligenz beherbergt auch immer künstliche Dummheit. Die Menschenwelt funktioniere nicht algorithmisch, so Professor Schneider, und wo ein „Ich liebe dich“ von einer KI zweifelsohne als Bekundung purer Zuneigung erklärt werde, bleibe die Möglichkeit, dass hinter diesem Satz wohlmöglich nur ein plumper Annäherungsversuch steckt, außen vor. Für die Unterscheidung brauche es eben menschliche Intelligenz und genau die sei es, die uns immer mehr abtrainiert werde, weil wir „ein täuschungsfreies Leben anstreben“. Dass das Ausklammern von „Täuschung“ oder „Mehrdeutigkeit“ jedoch durchaus Gefahren berge, beweise auch die Geschichte um einen auf Autopilot fahrenden Wagen, der ständig abbremste, weil er den tief stehenden Mond für eine gelbe Ampel hielt.
Schneider spannt am Ende den Bogen zu einer Textstelle in Goethes Tragödie „Faust“, in der selbst der Teufel über bewusst gewählte Worte sinniert, und entlässt die Schüler mit der Empfehlung, sich mit Literatur auseinanderzusetzen.