Erzieherin unter Mordverdacht Hätte der Tod des Viersener Kita-Kindes verhindert werden können?

Viersen/Kempen · Eine 25-jährige Erzieherin sitzt wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft. Sie soll ein dreijähriges Mädchen in Viersen getötet haben. Informationen, wonach die Frau bereits zuvor im Fokus von Untersuchungen stand, bestätigten sich indes nicht.

Zwei Stofftiere liegen vor dem Eingang der Viersener Kindertagesstätte, in der eine Erzieherin ein dreijähriges Mädchen getötet haben soll. Brennende Kerzen erinnern an das Kind.

Zwei Stofftiere liegen vor dem Eingang der Viersener Kindertagesstätte, in der eine Erzieherin ein dreijähriges Mädchen getötet haben soll. Brennende Kerzen erinnern an das Kind.

Foto: dpa/Marcel Kusch

UPDATE: Die Stadt Kempen teilte am Dienstag mit, dass es gegen die jetzt unter Mordverdacht stehende Erzieherin keine Ermittlungen gab. Ein Fremdverschulden bei einem Unfall, bei dem ein Junge in einer städtischen Kita in Kempen aufgrund einer Erkrankung einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte, kann ausgeschlossen werden. Alle Details und den aktuellen Stand finden Sie hier. Im Folgenden dokumentieren wir den ursprünglichen Artikel aus Gründen der Transparenz.

Dieser Montagmorgen in der Viersener Kita ist kein gewöhnlicher Morgen. Es ist der erste Morgen des Kita-Betriebs, nachdem am Freitag Staatsanwaltschaft und Polizei die Öffentlichkeit darüber informierten, dass eine 25-jährige Erzieherin dringend tatverdächtig ist, ein dreijähriges Mädchen in der Einrichtung ermordet zu haben. Die Rollladen sind herabgelassen, vor dem Eingang ist ein schwarzes Auto geparkt, stehen zwei Mitarbeiter eines Security-Services. Auf der Wiese hat ein Fernsehteam seine Kameras aufgebaut. Vor der Kita liegen zwei Stofftiere, brennen mehrere Kerzen in Gedenken an das blonde Mädchen, das einen Tag nach seinem dritten Geburtstag starb.

An diesem Morgen mischt sich in das Entsetzen über die mutmaßliche Tat aber auch eine Frage: Hätte der Tod des dreijährigen Mädchens verhindert werden können? Denn schon einmal kam es in einer Kindertagesstätte zu merkwürdigen Vorfällen, und auch damals war die heute 25-Jährige dort angestellt. Nach ihrem Anerkennungsjahr arbeitete die Erzieherin zunächst von August 2018 an in einer städtischen Kita in Kempen. Dort soll es mehrfach zu Atemstillständen bei Kindern gekommen sein, eines musste wiederbelebt werden. Es gab bei der Stadt interne Ermittlungen gegen die Erzieherin. Was aus den Ermittlungen wurde, blieb an diesem Montag unklar. Die Staatsanwaltschaft wollte mit Hinweis auf laufende Ermittlungen keine Auskünfte geben. Sicher aber ist: Der befristete Vertrag der Erzieherin wurde nicht verlängert, und die Stadt stellte ihr auch kein Zeugnis aus. Stadtsprecher Christoph Dellmans erklärte auf Anfrage: „Wir sagen nichts dazu. Es handelt sich um ein schwebendes Verfahren.“

Gesichert ist: Nachdem der Vertrag Ende Juli 2019 auslief, arbeitete die 25-Jährige weiter als Erzieherin in einer anderen Stadt. Und wechselte dann im Dezember zur städtischen Kita in Viersen.

Eine Leiterin aus einer Kita im Kreis Viersen, die anonym bleiben möchte, fragt sich, wie die 25-Jährige bei der Vorgeschichte überhaupt wieder eingestellt werden konnte. „Wenn das wirklich alles zutreffen sollte, ist das sehr schlimm. Wie kann es sein, dass eine Erzieherin nur 20 Kilometer entfernt im selben Kreis wieder eine Anstellung findet, obwohl sie in Verdacht gestanden hat, einem Kind schweren Schaden zugefügt zu haben“, fragt sie. „Wenn ich eine Bewerberin bei mir sitzen habe, werden ihre Unterlagen natürlich durchgecheckt. Sollten Zeugnisse fehlen oder sich Ungereimtheiten auftun, hake ich direkt nach und frage gegebenenfalls auch bei früheren Arbeitgebern nach“, ergänzt sie. „Es kann aber natürlich auch sein, dass sie ihre frühere Stelle gar nicht aufgeführt hat im Lebenslauf. Dann ist man natürlich weitestgehend machtlos“, sagte die Kitaleiterin.

Aber auch der Fachkräftemangel könnte eine untergeordnete Rolle gespielt haben. „Es ist unheimlich schwer, überhaupt eine Erzieherin zu finden, weil es auf dem Markt kaum welche gibt. Wenn die Sympathie im Vorstellungsgespräch stimmt, nimmt man vielleicht auch fehlende Zeugnisse in Kauf. Das könnte ich nachvollziehen“, sagt sie. Ob alle Zeugnisse der Bewerberin vorlagen, dazu machte am Montag auch die Stadt Viersen auf Anfrage keine Angaben.

Tatsächlich werden Erzieherinnen und Erzieher händeringend gesucht. In Nordrhein-Westfalen fehlen rund 15.000 Erzieher, bundesweit sind es sogar rund 120.000. Besserung ist vorläufig nicht in Sicht – im Gegenteil. Laut aktueller Studie des Wirtschaftinstituts Prognos fehlen bis zum Jahr 2025 bundesweit rund 200.000 Erzieher. Ein Problem: Erzieher fühlen sich in ihrem Beruf nicht ausreichend wertgeschätzt, wie eine Erhebung der OECD Ende vergangenen Jahres ergeben hat. Mangelnde Anerkennung könne sich auf die Qualität der Betreuung auswirken, sagt die OECD. Zuspruch dagegen würde sich positiv auf die Lern- und Fördermaßnahmen auswirken, heißt es in der Studie. Demnach ist trotzdem die Mehrheit der Erzieher in Deutschland mit ihrem Beruf grundsätzlich zufrieden (93 Prozent).

In Viersen war schon während der Probezeit klar, dass die 25-Jährige nicht weiter beschäftigt werden sollte. Nicht, weil es zu Vorfällen gekommen war – es habe halt nicht gepasst. Neun Tage vor Ende der Probezeit soll die Erzieherin dann den Atemstillstand herbeigeführt haben.

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