Zum Volkstrauertag „Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt ist alles andere als altmodisch“

Viersen · Auf den Friedhöfen im Westkreis wurde am Volkstrauertag der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht. Dass das mehr als eine unmoderne Pflichtveranstaltung ist, machte Oberst d.R. Helmut Michelis, Ehrenvorsitzender der Kreisgruppe Niederrhein im Reservistenverband, in Viersen deutlich. Wir dokumentieren seine Rede im Wortlaut.

 Helmut Michelis, Ehrenvorsitzender der Kreisgruppe Niederrhein im Reservistenverband, gedachte auf dem städtischen Friedhof Löh in einer bewegenden Rede zum Volkstrauertag der Opfer der Weltkriege und mahnte die Zeitgenossen, weiter für den Frieden einzutreten.

Helmut Michelis, Ehrenvorsitzender der Kreisgruppe Niederrhein im Reservistenverband, gedachte auf dem städtischen Friedhof Löh in einer bewegenden Rede zum Volkstrauertag der Opfer der Weltkriege und mahnte die Zeitgenossen, weiter für den Frieden einzutreten.

Foto: Knappe, Joerg (jkn)

Mit Blick auf diese traditionelle Feier zum Gedenken an die Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus bewegt mich vor allem Eines: Volkstrauertag – ist das nicht aus der Zeit gefallen? Gibt es heute nichts Wichtigeres? Den Klimaschutz zum Beispiel? Die Bewältigung immer neuer Flüchtlingsströme? Den zu befürchtenden wirtschaftlichen Abschwung? Die zunehmende Altersarmut?

Ich will das mit zwei Zitaten großer Politiker beantworten. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt hat einmal gesagt: „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Und der leidenschaftliche Europäer Jean-Claude Juncker meinte im Grunde dasselbe, als er feststellte: „Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen.“

Die vorangegangenen Jahrhunderte hindurch gab es im Schnitt alle 15 Jahre große Kriege in Europa. Meine Großeltern beispielsweise haben den Ersten und den Zweiten Weltkrieg miterleben müssen und viele Verwandte, auch Geschwister verloren; am Ende ist ihr mühsam erspartes Haus nach den entsetzlichen Bombennächten eine Ruine gewesen, das Guthaben auf der Bank war plötzlich wertlos.

Europa ist über 2000 Jahre ein Kontinent der blutigen Kriege gewesen. Die Friedensjahre der Bundesrepublik Deutschland sind – historisch gesehen – nicht viel mehr als ein Wimpernschlag und doch die längste ununterbrochene Friedenszeit auf deutschem Boden bzw. in den Vorgängerstaaten. Was für eine Gemeinschaftsleistung, auch unserer viel geschmähten Politiker in Deutschland und in Europa!

Für uns kommt der Strom zu jeder Tages- und Nachtzeit aus der Steckdose, sauberes Trinkwasser fließt selbstverständlich aus dem Hahn in der Küche oder im Bad. Und Frieden? Der ist ganz einfach irgendwie immer da. Nein, so einfach ist es in Wirklichkeit in allen drei Fällen natürlich nicht! Ich habe mich in Kandahar in Afghanistan zunächst gewundert, warum eine simple Stromtrasse und eine Talsperre so massiv von Militär bewacht wurden. Nun, sie waren – neben den örtlichen Schulen – ein Hauptangriffsziel der Taliban. Stabilität, Wohlstand, Bildung, Gesundheit – das ist gut für den Frieden, jedoch nicht gut für diejenigen, die Unruhe und Umsturz wollen.

In jedem Erfolg liegt der Keim des Misserfolges. Auch wir gewöhnen uns zu sehr daran, dass Frieden in Freiheit ein ganz selbstverständlicher Normalzustand zu sein scheint. Frieden, den sich die Toten, denen wir heute gedenken, so sehnlichst gewünscht hätten.

Tatsächlich dürfen wir unendlich dankbar sein, dass die Schrecken des Krieges für uns so weit entfernt sind: zeitlich wie räumlich. Die Kurden oder die Ukrainer, die Syrer oder die Malier, die täglich um ihr Leben fürchten müssen, sie können von unserer augenblicklichen Sicherheitslage nur träumen. Vor 100 Jahren ist der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gegründet worden – fast jede Familie in Deutschland war damals von den Schrecken des Krieges betroffen, das Grauen wiederholte sich in noch größerer Dimension nur 20 Jahre später. Die Zeitzeugen sind inzwischen fast alle von uns gegangen. Wer erzählt uns heute noch davon, wer mahnt uns?

Ich habe kürzlich in Ypern in Flandern einen Kranz niedergelegt, unter dem Beifall von englischen Schulkassen und von weither angereisten Australiern und Neuseeländern. Ein alter Belgier hat sogar geweint und meine Hand geküsst: Dass ich in deutscher Uniform den Millionen im Ersten Weltkrieg gefallenen alliierten, also damals feindlichen Soldaten meinen Respekt bezeugt hätte, das sei ein wunderschönes Zeichen der Versöhnung über den Gräbern gewesen. Für mich als Deutscher war das irritierend. Vergebung? Versöhnung? Erinnerung? Wir wollen doch am liebsten gar nichts mehr davon wissen, was damals in der Zeit unserer Väter, Großväter oder Urgroßväter geschehen ist.

Alliierte Kameraden, die in Regimentern dienen, die bereits seit dem 17. Jahrhundert existieren, habe ich ob dieser ungebrochenen Tradition immer beneidet. In Deutschland geht das nach zwei verlorenen Weltkriegen nicht mehr. Nur nebensächlich wird es dagegen beachtet, dass Deutschland – jetzt - wieder Gefallene und Verwundete zu beklagen hat, Menschen, die der Deutsche Bundestag, also letztlich wir alle, in diese gefährlichen weltweiten Einsätze geschickt haben.

Es ist schwer vermittelbar, dass es im 5000 Kilometer entfernten Afghanistan oder im 4000 Kilometer entfernten Mali auch um die Sicherheit Deutschlands geht. Ob in Afrika, Mittelamerika, im Nahen Osten oder in Asien – die Welt ist fast nirgendwo so friedlich, wie wir das gerne hätten, sie ist außerdem nahezu undurchschaubar verwoben und komplex: Die Attentäter auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 hatten in Bochum, in Bonn oder in Hamburg gelebt und studiert; im Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien habe ich die Frau eines bosnischen Kämpfers getroffen, die ebenfalls in Hamburg ihr Abitur gemacht hatte. Islamisten, die in Nordrhein-Westfalen geboren sind, morden in Syrien. Und während ich rede, sterben auch in Afghanistan oder in Mali wieder Menschen.

Das berührte mich als Reporter aus Krisengebieten vor einiger Zeit auch ganz persönlich: Mein Kollege Yves Debay, ein belgischer Fotoreporter, der sich auf Fallschirmjäger-Einsätze spezialisiert hatte und deshalb oft bei der Bundeswehr zu Gast war, ist in Aleppo in Syrien von Unbekannten aus dem Hinterhalt erschossen worden.

Fronten, wie es sie noch im Ersten und Zweiten Weltkrieg gegeben hat, sind inzwischen ins unheimlich Diffuse aufgelöst. Aus Sicht der Islamisten befindet sich auch Deutschland im Kampf und muss im Dschihad, dem heiligen Religionskrieg, vernichtet werden. Drei Jahre ist der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt inzwischen her. Doch unsere Sicherheitsexperten wissen: Es ist nicht die Frage, ob, sondern wann ein solcher heimtückischer Angriff auf die Zivilbevölkerung wieder bei uns geschehen wird. Wir sind, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, in einer neuen Art von Krieg, wo ein Polizeibeamter, ein Feuerwehrmann oder ein Rettungssanitäter plötzlich näher an der Front ist als ein Kommandosoldat irgendwo im Bürgerkrieg in Afrika.

In Norwegen, das hat auch mich verblüfft, wird gerade die Allgemeine Wehrpflicht auf alle jungen Frauen ausgedehnt. Dahinter steht die Angst vor der wieder erstarkten Militärmacht Russland. Auch vor unseren Küsten sind wieder russische Atombomber unterwegs, es werden Scheinattacken geflogen wie einst in Zeiten des Kalten Krieges. Aber wir verdrängen jede Form der Bedrohung, die lästige Wehrpflicht haben wir erst reduziert und dann sogar ganz abgeschafft. Das ist bequem, das reduziert Bürokratie und spart Geld. Aber ist es auch klug, ist es verantwortungsbewusst?

Mit dem Zusammenbruch des östlichen Militärmonsters „Warschauer Pakt“ ohne einen einzigen Schuss hat die NATO 1989 den größten denkbaren Sieg der Weltgeschichte errungen. 120 Atombomben wollten die östlichen Generale entlang der innerdeutschen Grenze vor ihrem Großangriff explodieren lassen und außerdem großflächig chemische Waffen einsetzen – Deutschland hätte nicht mehr existiert. Welch ein Glück, dass es dazu nicht gekommen ist!

Sagen, tragen Sie es weiter: Ein Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt ist alles andere als altmodisch. Es ist eine Warnung, eine Mahnung, die Zukunft zu gestalten. Die Menschen hatten 1914 oder 1939 wohl keine Wahl. Wir schon.Der demokratische Rechtsstaat und die internationale Staatengemeinschaft, in der wir heute leben, leben dürfen, verschont uns davon, gemeinsam mit vielen, vielen Tausend anderen Menschen Todesangst zu erleiden, töten zu müssen, verstört nach Hause zurückzukehren oder gar irgendwo auf einem Schlachtfeld qualvoll zu verbluten. Wir sind verschont davon, willkürlich in einem Konzentrationslager ermordet zu werden, nur wegen unserer Religion oder Hautfarbe oder politischen Einstellung.

Aber wehret den Anfängen! Wobei: Sind es überhaupt noch Anfänge, oder stecken wir schon tief in der Erosion?

Dieser Staat, das vereinte Europa und die Verteidigungsallianz Nato ermöglichen in dieser Freiheit und Sicherheit leider auch, ärgerlich Sinnloses, ja, dümmlich Zerstörerisches zu tun, neuen Nationalismus zu predigen und sogar die Gespenster der unseligen NS-Zeit wieder als erstrebenswert heraufzubeschwören. Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit, so lautete in den 1970er-Jahren einmal ein Motto der Nato: Zeitlos treffend, so finde ich. So aktuell wie diese heutige Gedenkfeier.

Lassen Sie uns der Opfer gedenken, entreißen wir sie der Anonymität, auch wenn es nur ein kurzer Augenblick ist. Ihre Gräber sollten uns, müssen uns auch im Alltag eine eindringliche Mahnung sein, eine Mahnung, Fehler nicht zu wiederholen!

Der Redner Helmut Michelis ist aktiver Reserveoffizier. Unter anderem ist er der Ehrenvorsitzende der Kreisgruppe Niederrhein im Reservistenverband der Bundeswehr. Im vergangenen Mai wurde er von der damaligen Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit der Medaille des Verteidigungsministeriums geehrt. Viele Jahrzehnte arbeitete Michelis als Redakteur für die „Rheinische Post“, war dort zuletzt für Sicherheitspolitik verantwortlich.

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