Viersen Versteckt im Kofferraum in die Freiheit

Viersen · Die Pfarrerstochter Elisabeth Bublitz beschloss 1979, die DDR zu verlassen. Für ihre Flucht brauchte sie fünf Komplizen, zwei Autos, ein gutes Versteck, viel Glück und Mut

 Vor dem diesjährigen Osterfest packte Elisabeth Bublitz ihren Kofferraum mit Päckchen für die Rumänien-Hilfe voll.

Vor dem diesjährigen Osterfest packte Elisabeth Bublitz ihren Kofferraum mit Päckchen für die Rumänien-Hilfe voll.

Foto: Knappe

Fünf Studenten steigen auf einem Parkplatz an der Transitautobahn zwischen Berlin und Westdeutschland aus einem hellgrünen Wartburg. Es ist der 16. September 1979, etwa sechs Uhr morgens, langsam wird es hell. Es ist kalt. So kalt, dass in den Pfützen das Wasser gefroren ist. Die Studenten aus Ost-Berlin spazieren bibbernd ein bisschen herum, vorbei an einem jungen Mann, der sich über den Motorraum seines dunkelgrünen Ford Taunus mit westdeutschem Kennzeichen beugt. Aus dem Kofferraum hat er sich Werkzeug geholt. Die Kofferraumklappe ragt noch hoch. Irgendwann ruft einer der Studenten: "Einsteigen!", und es dauert nicht lange, bis der hellgrüne Wartburg wieder auf der Straße ist. Aber nur noch mit vier Insassen. Denn Elisabeth Bublitz, Pfarrerstochter und Theologiestudentin, hat ganz unauffällig eine andere Mitfahrgelegenheit gefunden: Die 21-Jährige liegt versteckt im Kofferraum des Ford Taunus unter einer camelhaarfarbenen Wolldecke. Ihre Flucht aus der DDR verläuft bisher genau nach Plan.

Viersen: Versteckt im Kofferraum in die Freiheit
Foto: Bublitz

Knapp 40 Jahre später sitzt Elisabeth Bublitz in ihrem Haus in Viersen-Noppdorf am Küchentisch, vor ihr liegen alte Fotos und eine Kopie ihrer Stasi-Akte. In einem Bericht vom 14. November 1979 heißt es da über sie: "Hat im Zeitraum vom 13.09.1979 bis 19.09.1979 auf bisher unbekannte Weise die DDR ungesetzlich verlassen." Elisabeth Bublitz lächelt. "Ich habe die Akte nur angefordert, weil ich wissen wollte, ob die über meine Flucht Bescheid wussten", sagt sie. "Aber laut dieser Akte hatten die gar nichts. Keinen blassen Schimmer." Seit knapp 28 Jahren lebt sie in Viersen. Ihr Mann Günter war bis Ende Februar einer der Pfarrer der evangelischen Kreuzkirche, jetzt ist er im Ruhestand. Auch er hat 1979 die DDR verlassen, aber ganz offiziell: Nachdem er zwei Jahre darauf gewartet hatte, dass sein Ausreiseantrag genehmigt wird. Als das Verfahren bereits lief, lernten sich die beiden kennen und wurden ein Paar. Doch dann reiste Günter Bublitz aus. Seine Freundin musste sich nun entscheiden, ob sie ihm folgen sollte.

 In einem grünen Ford Taunus ähnlich wie diesem floh Elisabeth Bublitz aus der DDR. Nicht mal die Stasi wusste, wie sie entkommen war.

In einem grünen Ford Taunus ähnlich wie diesem floh Elisabeth Bublitz aus der DDR. Nicht mal die Stasi wusste, wie sie entkommen war.

Foto: Büren

Aufgewachsen ist Elisabeth Bublitz in der Lutherstadt Wittenberg. "Als Pfarrerskind in der DDR geboren: Da war man von Hause aus Opposition", sagt die 59-Jährige. "Ich wurde in der Schule nahezu immer ausgegrenzt, trotz Einser-Notenschnitt durfte ich nicht aufs Gymnasium." Ihre einzige Chance: ein kirchliches Gymnasium in Potsdam. Nach dem Abitur zog Bublitz 1978 nach Ost-Berlin und schrieb sich an der Humboldt-Universität für den Studiengang Theologie ein. "Da habe ich meinen Mann kennengelernt", erzählt sie. "Ich war Erstsemester, er Studieninspektor." Doch nicht nur seinetwegen beschloss sie, die DDR zu verlassen: "Diese politische Diktatur, diese Enge, das bespitzelt werden und Angst haben - das gefiel mir überhaupt gar nicht."

Der erste Fluchtversuch scheiterte. "Der Mann, der mich an der Transitstrecke mitnehmen sollte, tauchte nicht auf", sagt Bublitz. Auf diesen Transitstrecken war es damals Besuchern aus Westdeutschland möglich, ohne weitreichende Kontrollen über festgelegte Straßen durch DDR-Gebiet nach Berlin und wieder zurück zu fahren. Weil Bublitz einen Freund aus Gütersloh hatte, der häufiger auf diesem Wege nach Berlin kam, bat sie im zweiten Anlauf ihn um Hilfe. Er sagte zu, und gemeinsam mit einem Kommilitonen planten sie die Flucht. "Ich hatte kein Auto, also habe ich für 50 D-Mark einen hellgrünen Wartburg gemietet", erzählt Bublitz. "Bei dem ging ständig die Kofferraumklappe auf, ich hielt das für ein schlechtes Omen." Bublitz hatte keinen Führerschein, außerdem sollte die Tour im Wartburg wie ein Studentenausflug wirken. Deshalb weihte sie noch drei Kommilitonen ein.

Fünf Studenten fahren also am 16. September 1979 frühmorgens im Wartburg in Ost-Berlin los. An der Raststätte Michendorf halten sie und sehen dort den Fluchthelfer im Ford Taunus. Ohne mit ihm zu sprechen, fahren sie weiter auf der Transitautobahn. Bis zum dritten Parkplatz hinter Michendorf. Mit dem Wartburg rollen sie etwa einen Meter hinter den Ford, halten und steigen aus. Als später einer der Studenten "Einsteigen!" ruft, hüpft Bublitz in den geöffneten Kofferraum des Ford und zieht sofort die Wolldecke über sich. Der Freund aus Gütersloh schließt wenig später die Klappe, steigt ein und fährt los in Richtung Grenzübergang Helmstedt/Marienborn. Etwa vier Stunden liegt Bublitz, die damals im vierten Monat schwanger ist, hinten im Kofferraum. Es ist dunkel und kalt, aber das Schaukeln des Wagens wiegt sie zwischendurch in den Schlaf. Sie hat nur ihre Handtasche und einen Mantel dabei, doch den hat sie tags zuvor bei einem Treffen auf der Rückbank deponiert. Mehrmals stoppt der Ford, Bublitz ist angespannt, bis er sich wieder bewegt. Doch dann, bei einem Stopp, hört sie, dass eine Tür geöffnet wird. Sie liegt im Dunkeln, lauscht, wartet ängstlich - plötzlich hebt sich die Kofferraumklappe und ihr Bekannter schaut sie an. "Wir haben es geschafft", sagt er. "Dann bin ich ausgestiegen und wir haben uns erst Mal in den Armen gelegen", erinnert sich Bublitz.

Die 59-Jährige weiß: "Wenn ich geschnappt worden wäre, wäre mein erster Sohn im Gefängnis geboren worden und in eine staatstreue Familie gekommen." Sie habe großes Glück gehabt, "an den Parkplätzen entlang der Transit-Strecke saßen die Spitzel mit Ferngläsern in den Bäumen." Als sie in der Bundesrepublik war, brachte der Freund sie zu Günter Bublitz nach Bonn. Er studierte Theologie, sie schrieb sich für Kunstgeschichte ein. Das Paar heiratete an einem Veilchendienstag in Bonn. Als er eine Stelle als Hilfspfarrer in der Eifel bekam, brach sie ihr Studium ab. 1985 zogen die Bublitz' nach Düsseldorf, später nach Viersen. Mittlerweile haben sie fünf Kinder und sieben Enkel. Das erste Kind, Sohn Friedemann, wurde übrigens im März 1980 geboren - kurz vor Ostern.

(RP)
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