Viersen Die Unerschütterlichen vom Tuspi-Platz

Fussball · 20 Spiele, 0 Punkte, 203 Gegentore: Der SC Viersen-Rahser verliert Woche für Woche haushoch. Aber die Mannschaft gibt sich nicht auf.

 Die Torhüter des SC Viersen-Rahser, hier Fabrice Holzmüller, sind in der laufenden Saison wahrlich nicht zu beneiden. Das Tabellenschlusslicht der Kreisliga B musste in 20 Spielen schon unglaubliche 203 Tore hinnehmen.

Die Torhüter des SC Viersen-Rahser, hier Fabrice Holzmüller, sind in der laufenden Saison wahrlich nicht zu beneiden. Das Tabellenschlusslicht der Kreisliga B musste in 20 Spielen schon unglaubliche 203 Tore hinnehmen.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Patrick Jacobs feiert nicht. Als der Ball im Netz liegt, eilt der Torschütze zügig hinterher. Jacobs schnappt sich die Kugel, feuert sein Team an und trabt Richtung Mittelkreis. Ob sie hinten gepennt hätten, schimpft der Trainer vom Polizei SV II über die Verteidiger. Jacobs hat sich jetzt zum Anführer einer verlorenen Hoffnung geschossen. Er weiß noch nicht, dass der Schiri jeden Moment abpfeift. Es steht 6:1 für den Gladbacher Polizeisportverein. Es ist Halbzeit für Rahser.

Eine solche Mannschaft gibt es im Fußballkreis Mönchengladbach/Viersen sowieso nur einmal, aber auch im Landesverband Niederrhein und sogar in Deutschland gibt es davon keine zweite. Ein Team, das so dasteht, wie der Sportclub Viersen-Rahser 1954. 20-mal lief die erste Mannschaft in der Kreisliga B, Gruppe 2, in dieser Saison schon auf. 20-mal hat Rahser nicht gewonnen oder unentschieden gespielt. 15 Tore haben sie geschossen und 203 kassiert. Rahser hat null Punkte, ist Tabellenletzter. Andere Mannschaften hätten sich längst vom Spielbetrieb abgemeldet, so wie jüngst der VfB Bettenhausen II aus Hessen (siehe Grafik). Rahser nicht.

"Solange genug Leute kommen, ziehen wir das durch", sagt Trainer Florian Scharf. "Wir spielen eben gerne Fußball", sagt Torwart Andreas Thönnessen. Am fünften Spieltag musste er 27-mal hinter sich greifen. Das ist Saisonrekord. Nach diesem 0:27 gegen Victoria Menrath hat sich die Mannschaft nie wieder berappelt. Und davor auch nicht.

Mittwochabend, eine halbe Stunde noch: Eigentlich trägt der Verein seine Heimspiele am Tuspi-Platz in Rahser aus. Weil der Sportplatz wegen des anhaltend schlechten Wetters unter Wasser steht und ohnehin kein Flutlicht hat, spielt Rahser nun am Hohen Busch. Es ist ein Nachholspiel. Gegner ist der schlechte Kunstrasen und die zweite Mannschaft vom Polizei SV aus Gladbach. Die sind auf Platz neun der Liga und haben Rahser im Hinspiel 9:1 geschlagen. Aber heute ist der Kleiderschrank nicht dabei" - heißt es vor der Partie aus dem Kreis der Mannschaft. Im Hinspiel habe es da einen richtigen Brecher gegeben, bestimmt zwei Meter groß und ziemlich breit. Der habe immerzu seinen Körper eingesetzt und die Arme auch. Heute laufen sich dafür elf andere Jungs in grünen Trikots warm, die Rahser abschießen wollen. "Natürlich wollen uns jetzt alle abschlachten", sagt Trainer Florian Scharf sogar. Dieses ganze Fußballvokabular ist immer so schön martialisch: stürmen, schießen, abschlachten. Rahser gilt als leichte Beute. Zuletzt soll sich ein Team in der Kabine regelrecht gefetzt haben, weil es zur Halbzeit nur 9:0 führte. Die Jungs von Rahser mussten das mit anhören.

Kurz vorm Anpfiff kommt das Team zusammen. Sie stellen sich im Kreis auf, Trainer Scharf, den sie "Flo" nennen, sagt, sie sollen diesmal die Köpfe nicht hängen lassen, auch wenn's vielleicht 0:2 steht. Sie rufen "Sportclub - RAHSER!" und schlagen sich wacker. Einer der Grünen fällt im Mittelfeld. "Das war der Wind", scherzen sie auf der Ersatzbank. Es gibt Gelb für Rahser, die übrigens in Rot spielen.

Das 1:0 fällt nach einer Viertelstunde, das zweite Tor kurz darauf. Auf der Ersatzbank sitzen Mittelfeldmann Christopher Heintges, Stürmer Gjuliano Bajrami und Stammtorwart Andreas Thönnessen. Der 39-Jährige stand bislang immer in der Startelf und ist froh, heute seine Knochen zu schonen. Der erfahrenste Feldspieler ist Libero Ulrich Vogels, 48. "Der Uli hat mit Rahser schon in der Bezirksliga gespielt", sagt Trainer Scharf.

Wäre das deutsche Ligasystem ein Hochhaus, genössen Ribéry und Kevin-Prince Boateng im elften Stock die Aussicht über die Bundesliga-Arenen, während die Fahrstuhltür Richtung Erdgeschoss für Rahser schon sperrangelweit aufstünde. Eigentlich war der Verein schon im vergangenen Jahr fällig, als sie nur die Liga hielten, weil der Gegner das Relegationsspiel absagte. Es wäre wohl besser gewesen, damals abzusteigen, meint Florian Scharf. Seit der Rückrunde trainiert er die Mannschaft. Scharf ist dem Verein verbunden und das, was man im Fußball einen Feuerwehrmann nennt. Eigentlich ist er aber gelernter Physiotherapeut.

36 Spieler für zwei Mannschaften und einen anderen Trainer hatten sie zu Saisonbeginn, doch mit jeder Niederlage dünnte sich der Kader aus. "Es hat sich einfach so zerschlagen", sagt Andreas Thönnessen. Heute ist Trainer Scharf froh, wenn er nicht nur die Startelf, sondern auch die Ersatzbank besetzen kann. Sie haben nur noch eine Mannschaft, die sich nicht geschlagen gibt, obwohl sie jede Woche haushoch verliert. "Das sind halt einfach gute Leute", sagt Torwart Thönnessen. "So ist Fußball", sagt Gjuliano Bajrami. Mittlerweile gebe es auch Gegner, die ihnen nach den Spielen Respekt zollen.

Eine Woche vor der Partie gegen Polizei SV II kamen nur fünf Mann zum Training. Torschütze Patrick Jacobs, Ersatztorwart Fabrice Holzmüller und Christopher Heintges. Marcel Thönnessen, der für Rahser schon in der zweiten, dritten und jetzt ersten Mannschaft spielte. Und der bislang torlose Stürmer Gjuliano Bajrami, der nebenbei die C-Jugend betreut. Bei denen kämen stets um die 15 Jungen zum Training, erzählte er. "Es kommt immer mal drauf an, ob die viele Hausaufgaben aufhaben."

"Die Jugend müssen wir jetzt hochholen", sagt Massimo Cerra. Dann ginge es vielleicht auch mit Rahser bergauf. Cerra ist Vereinsvorsitzender, ein ruhiger Mann Anfang 40, der sich mehr Ehrenamtler wünscht, weil die Vorstandsarbeit bloß noch auf drei Schultern laste. Er ist ausnahmslos freundlich und lächelt erstaunt, als der Trainer vom Polizei SV beim Spielstand von 7:1 brüllt: "Bewegt euch!" Cerra hat bis vor einigen Jahren auch in Rahsers erster Mannschaft gespielt. "Wir sind auch mal abgestiegen", sagt er. Aber so eine verflixte Saison hat er noch nie erlebt. "Wir bleiben dran", sagt Massimo Cerra. Der SC Viersen-Rahser macht noch ein Tor. Das Spiel endet 2:11.

(RP)
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