Viersen So lebte man in Viersen vor 100 Jahren

Viersen · Immer mehr Deutsche kaufen in Holland ein. Damit ist jetzt Schluss: Wer Lebensmittel nach Deutschland transportiert, muss mit einem Strafverfahren rechnen. Schmuggler werden erschossen

 Die Not ist groß: Viersener Kinder sammeln am Hoserkirchweg, Ecke Friedhofstraße, Küchenabfälle auf einem Karren.

Die Not ist groß: Viersener Kinder sammeln am Hoserkirchweg, Ecke Friedhofstraße, Küchenabfälle auf einem Karren.

Foto: Stadtarchiv Viersen

Das königlich-niederländische Konsulat hat im Januar 1917 eine Bekanntmachung auf den Weg gebracht. Danach dürfen keine Lebensmittel aus den Niederlanden nach Deutschland ausgeführt werden. Die Zahl der Deutschen, die in Holland Lebensmittel kaufen, nehme ständig zu, teilte das Konsulat mit. Allerdings sei die Ausfuhr von Lebensmitteln auch in kleinen Mengen für den eigenen Gebrauch verboten. "Kaufen in Deutschland wohnende Personen dergleichen Lebensmittel trotzdem ein, so wird bei dem Versuch, diese Waren auszuführen, das Gekaufte mit Beschlag belegt", heißt es in der Bekanntmachung weiter. Einkäufer müssten mit einem Strafverfahren "wegen Zuwiderhandlung des Ausfuhrverbotes rechnen".

Die Bahnhofstraße mit Blick zum ehemaligen Bahnhof.

Die Bahnhofstraße mit Blick zum ehemaligen Bahnhof.

Foto: Heimatverein

In den vergangenen Wochen hat die Zahl der Kontrollen im Grenzwald massiv zugenommen. Immer wieder werden Erwachsene, auch Kinder, aufgegriffen, die versuchen, heimlich Lebensmittel aus den Niederlanden nach Deutschland zu bringen. Niederländische Grenzposten sind angewiesen, auf jede Person zu schießen, die nicht sofort bei Anruf stehenbleibt.

 Lebensmittel sind knapp. Auf dem Alten Markt in Dülken werden Kartoffeln und Gemüse verkauft.

Lebensmittel sind knapp. Auf dem Alten Markt in Dülken werden Kartoffeln und Gemüse verkauft.

Foto: Stadtarchiv

Unter den Schmugglern, die regelmäßig die Grenze überqueren, um im Nachbarland Lebensmittel zu erwerben, ist Elsbeth M. (43). Die Dülkenerin hat sich bereit erklärt, im Gespräch mit unserer Redaktion ihre Situation zu erläutern. "Seit die Bahn nicht mehr fährt, bekommen wir auch keine Kartoffeln mehr", sagt die fünffache Mutter. Bislang, so erläutert M., habe sie für sich und die Kinder - der Ehemann ist an der Front - stets noch Kartoffeln und Gemüse in der Stadt holen können. Doch dort gebe es jetzt nicht mehr viel. "Und wenn es was gibt, ist es halb verdorben", klagt die Mutter.

 Frauen des Vaterländischen Frauenvereins verkaufen ehrenamtlich auf dem Schulhof der Hilfsschule an der Hauptstraße städtisches Gemüse.

Frauen des Vaterländischen Frauenvereins verkaufen ehrenamtlich auf dem Schulhof der Hilfsschule an der Hauptstraße städtisches Gemüse.

Foto: Stadtarchiv

Der Stadtverwaltung zufolge sind erfrorene Kartoffeln durchaus für den Verzehr geeignet. Man müsse sie so lagern, dass sie nicht auftauen könnten, und vor Verbrauch zehn bis zwölf Stunden in kaltes Wasser legen. Wer die Kartoffeln dann in der Schale koche, werde keinen Unterschied zu nicht erfrorenen Kartoffeln schmecken, heißt es in einer Mitteilung aus dem Rathaus. Die Dülkenerin M. sieht das anders: "Das kann ich den Kindern nicht jeden Tag vorsetzen. Die Jüngsten haben einen schlimmen Husten, der einfach nicht weggehen will. Das hängt mit der Ernährung zusammen. Kein Fleisch, kein Fett, nichts!"

 Die Festhalle , 1913 erbaut, verfügt seit 1915 auch über eine große Konzertorgel. Genutzt wird die Halle für Sport- und Kulturveranstaltungen.

Die Festhalle , 1913 erbaut, verfügt seit 1915 auch über eine große Konzertorgel. Genutzt wird die Halle für Sport- und Kulturveranstaltungen.

Foto: Heimatverein

Dass man der Bevölkerung nun auch noch rate, Spatzen zu essen, sei das Widerlichste, das ihr in den vergangenen drei Jahren untergekommen sei, erklärt M. sichtlich empört. "Ich soll die Kinder rausschicken, um Spatzen zu fangen, und die Viecher dann daheim im Ofen braten. Was ist das denn für eine Idee?" Auf solch eine Idee, so ihre Vermutung, könne auch nur der Voß kommen.

Tatsächlich sei die Lage in der Stadt außerordentlich schwierig, erklärt Dülkens Bürgermeister Caspar Voß auf Anfrage unserer Redaktion. Dass sich fast täglich schreiende Kriegerfrauen vor dem Rathaus einfänden, sei nicht akzeptabel. Die Frauen seien zunehmend aggressiv gestimmt, so Voß: "Erst fordern sie Kartoffeln und Gemüse, dann wollen sie ihre Ernährer zurück. So geht das nicht", fügt Voß hinzu.

Er habe Verständnis für die Lage der Familien., "aber es kann auch nicht sein, dass die Frauen jetzt Klagebriefe an die Front schicken", stellt Voß klar, "das untergräbt die Moral im Heer". Er versuche, den Frauen bewusst zu machen, welch wichtige Aufgabe sie in der Heimat hätten. Im Übrigen stamme das Rezept für Spatzensuppe nicht von ihm, sondern aus der Zeitung.

Nach unseren Recherchen hat die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung mehrere Ursachen: Der verregnete Herbst 1916 hat zu einer nie dagewesenen Kartoffelfäule geführt. Ende 1915 lag die Ernte reichsweit noch bei rund 50 Millionen Tonnen, Ende 1916 waren es nur 23 Millionen Tonnen. Abzüglich der Kartoffeln, die für Saat- und andere Zwecke benötigt werden, bleiben jetzt nur 13,5 Millionen Tonnen für die Ernährung der Bevölkerung. Zudem gelingt es aufgrund des Kohlemangels oft nicht, Kartoffeln und Gemüse per Eisenbahn in die Stadt zu bringen. Da auch die Stadt kein Gemüse mehr in Holland kaufen darf, ist Viersen auf die Zuteilungen der Reichsgemüsestelle angewiesen. Diese werden waggonweise zugeteilt - und für den Betrieb der Züge sind Kohlen zwingend notwendig.

Die Viersener Stadtverwaltung geht davon aus, dass Steckrüben weiterhin über den schlimmsten Mangel hinweghelfen werden. Nach Angaben der Verwaltung wird die Kartoffellieferung in der kommenden Woche komplett ausfallen. Wie Oberbürgermeister Peter Stern mitteilt, werden die Steckrüben wöchentlich an den Ausgabestellen - im Lager an der Süchtelner Straße und bei Liedgens an der Gladbacher Straße - ausgegeben. Schwerarbeiter, so Stern, erhalten wie bislang sechs Pfund Rüben zusätzlich. Unsere Zeitung veröffentlicht ab sofort wöchentlich ein neues Rezept aus der Serie "Steckrüben genießen". Erstellt wurden die Rezepte vom Hausfrauenbund.

Die Ernährung der Kinder ist eine Sache, die die Dülkenerin Elsbeth M. quält. Doch sie mache sich auch Sorgen, weil die Kinder meist auf sich selbst gestellt seien. Seit der Ehemann an der Front sei, arbeite sie in der Fabrik, um die Familie irgendwie zu ernähren. Arbeite sie nicht, gehe sie hamstern oder gleich nach Holland. Bislang habe die älteste Tochter (15) auf die jüngeren Geschwister aufgepasst. Doch gerade mit den elf und 13 Jahre alten Brüdern habe das Mädchen Probleme. "Sie raufen, und ich bekomme dann Nachricht von den Nachbarn, wenn sie wieder etwas angestellt haben", seufzt die Frau. Ernsthaft denke sie darüber nach, die Kinder in den Hort zu geben, den die Pfarre St. Remigius jetzt eingerichtet habe. Dort kümmern sich Frauen des Vaterländischen Frauenvereins um Jungen und Mädchen. An der Schule falle immer wieder der Unterricht aus, weil man wegen des Kohlemangels die Klassenräume nicht heizen könne, klagt M. "Ich bin ja froh, wenn es irgendeine Sammelaktion gibt", sagt die 43-Jährige. "Ob die Kinder mit ihren Lehrern Brombeerblätter für die Pferde im Heer oder Altpapier sammeln, ist mir egal. Hauptsache, sie sind beschäftigt und machen keinen Unsinn."

Sie achte sehr darauf, sich nicht hängen zu lassen, sagt M., "die Kinder sollen nicht mitbekommen, wie sehr mein Mann mir fehlt, welche Angst ich um ihn habe". Daher bete sie erst dann für ihn, wenn die Kinder schliefen. Zwei ihrer Brüder sind bereits gefallen, die Mitteilungen darüber erhielt sie Tage später per Post. "Man hat ja immer Angst", erklärt die Dülkenerin. "Wenn der Briefträger kommt, hoffe ich immer, dass er nichts für mich hat." Beide Brüder starben, noch keine 40 Jahre alt, in Frankreich - dort, so berichtet die 43-Jährige, sei derzeit auch ihr Mann. Aus seinem letzten Brief an sie gehe hervor, dass man gerade begonnen habe, Eisenbahnlinien und Maschinen abzubauen und nach Deutschland zu schicken sowie Brücken zu sprengen. "Sie ziehen sich zurück", sagt M., "hoffentlich kommt er also bald wieder".

Plötzlich zieht die Dülkenerin eine fleckige Zeitungsseite aus der Rocktasche. "Das gibt mir Halt", flüstert M. und legt die Seite auf den Tisch. Es handelt sich um die erste Seite der Süchtelner Zeitung zum Jahreswechsel 1916/17. Mit Kohle hat sie diesen Abschnitt eingekreist: "So stehen wir am Anfang des neuen Jahres zwischen Hoffen und Bangen. In der einen Hand trägt 1917 das Schwert, in der anderen aber schon die Palme des Friedens, womit es die Völker segnen will. Möge 1917 werden das hellleuchtende Tor, durch das die Völker in eine sichere Zukunft schreiten. Diesen Neujahrswunsch erfülle der Herr der Zeit und Ewigkeit."

(RP)
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