Bundesweit in rund 50 Kliniken Pharmafirmen testeten Medizin an Heimkindern in Viersen

Düsseldorf/Viersen · Bis 1975 wurden Kindern und Jugendlichen in Erziehungseinrichtungen offenbar ohne deren Wissen Medikamente zu Testzwecken verabreicht. Auch in einer Einrichtung des Landschaftsverbands Rheinland in Viersen gab es solche Fälle. Das geht aus einer Doktorarbeit hervor.

Bundesweit in rund 50 Kliniken: Pharmafirmen testeten Medizin an Heimkindern in Viersen
Foto: Büsch

Es ist ein erschreckendes Ergebnis, zu dem die Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner (52) bei den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit gekommen ist: Bundesweit sollen Pharmafirmen in rund 50 Kliniken, meist Kinder- und Jugendpsychiatrien, bis weit in die 1970er Jahre hinein Medikamente an Heimkindern getestet haben. Wagner schätzt, dass bundesweit Tausende Kinder und Jugendliche in Heimen und Psychiatrien zwischen 1950 und 1975 Opfer von solchen Medikamententests geworden sind. "Es kam unter anderem zur Prüfung von Impfstoffen, Psychopharmaka und die Libido hemmenden Präparaten", sagt Wagner.

Ihrem Forschungsbericht zufolge befindet sich unter den betroffenen Einrichtungen auch eine Erziehungsanstalt des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) in Viersen-Süchteln. Dort sollen etwa 30 Kinder im Alter von zwölf und 13 Jahren das Neuroleptikum "Dipiperon" als Saft verabreicht bekommen haben - offenbar um erhöhte Aggressivität aufgrund von Hirnschädigungen zu behandeln. Den größten Anteil stellten dabei mit 62 Prozent die "milieugeschädigten Kinder, die aus sehr ungünstigen sozialen Verhältnissen kommen" .

Der LVR streitet die Vorwürfe nicht ab und ist um Wiedergutmachung bemüht. "Die 30 betroffenen Kinder aus Süchteln sind unserer Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder bisher namentlich nicht bekannt", erklärt eine Sprecherin. "Sie haben die Möglichkeit, sich bei uns zu melden." Darüber hinaus werde der LVR auch von sich aus versuchen, diese Kontakte herzustellen. "Politik und Verwaltung des LVR sind sich einig, dass den ehemaligen Heimkindern Gerechtigkeit widerfahren muss." Dazu gehöre neben Aufklärung und Entschuldigung auch eine Entschädigung.

Ab Januar 2017 soll eine neue Stiftung "Anerkennung und Hilfe" ihre Arbeit aufnehmen. Sie richtet sich an Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend zwischen 1949 und 1975 in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in jugendpsychiatrischen Einrichtungen leben mussten. Die Stiftung hat sich die Aufgabe gegeben, die Betroffenen zu beraten und Geldleistungen zur Verfügung zu stellen, um die Folgeschäden dieser Behandlungen abzumildern.

Schädigungen des Knochenmarks

Für ihre Forschungsarbeit hat die Krefelderin Dutzende Studien aus der damaligen Zeit in Fachzeitschriften und Archiven ausgewertet. Diese Berichte sind zum großen Teil nach wie vor öffentlich in Universitätsbibliotheken zugänglich.

Auch Psychopharmaka wurden an Kindern und Jugendlichen in der besagten Zeit in Erziehungseinrichtungen getestet. Bei diesen Mitteln soll es sich um Präparate gehandelt haben, die eine positive Wirkung auf das zentrale Nervensystem ausübten. Die betroffenen Heimkinder sind offenbar von den Ärzten nicht gefragt oder über mögliche Risiken aufgeklärt worden. Jedenfalls hat Wagner dafür keinen einzigen Hinweis bei ihrer umfangreichen Recherche finden können. Bei den verantwortlichen Medizinern habe es sich in "nicht unerheblichem Maße (...) um ehemalig hohe NS-Funktionäre" gehandelt, schreibt Wagner.

Zum Teil sollen sogar, so heißt es in dem Forschungsbericht weiter, staatliche Behörden und Institutionen von den Arzneimitteltests gewusst oder diesen zugestimmt haben. In einem Fall (Pockenschutzimpfung 1954) soll das Bundesgesundheitsamt einen entsprechenden Auftrag erteilt haben. "Materielle Unterstützung" sei zudem vom Ministerium für Arbeit, Soziales und Wiederaufbau des Landes NRW gekommen. Diese Tests haben wohl in einem Waisenhaus in Düsseldorf stattgefunden. Bei den anschließenden Untersuchungen stellten die Ärzte bei einigen Kindern Schädigungen des Knochenmarks fest. Experten schätzen, dass nicht nur Opfer dieser Pockenschutzimpfung, sondern fast alle Betroffenen in irgendeiner Form unter den Medikamentenversuchen noch bis heute zu leiden haben - vor allem an psychischen Erkrankungen wie unter anderem Wahnvorstellungen und Schizophrenie.

(RP)
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