Schwalmtal "Oma, wo ist deine Heimat?"

Schwalmtal · Ihre deutschen Vorfahren zogen im 18. Jahrhundert nach Russland, Katharina Scherling kam vor 20 Jahren nach Deutschland zurück. Ein Gespräch mit ihrer Enkelin Nastassja über die Integration Russlanddeutscher.

Im 18. Jahrhundert versprach Katharina die Große, Kaiserin von Russland, deutschen Siedlern Land, finanzielle Unterstützung, die Selbstverwaltung in deutscher Sprache und Religionsfreiheit, wenn sie nach Russland ziehen. Viele Familien folgten ihrem Aufruf. Nach dem Zweiten Weltkrieg litten viele Russlanddeutsche unter Diskriminierungen durch Russen, die ihnen die Deutschstämmigkeit vorwarfen. Darunter hatte auch die Familie von Katharina Scherling zu leiden.

Vor 20 Jahren zog die heute 78-Jährige deshalb zurück nach Deutschland. Mit ihrer Enkelin Nastassja Scherling (19) spricht sie über ihre Erfahrungen in Russland, die Rückkehr und das Leben in Deutschland heute.

Oma, wo ist deine Heimat?

Scherling Ich habe zwei Heimaten. Eine in Russland, meinem Geburtsort Stalingrad, und eine hier in Deutschland, weil meine Kinder und ich jetzt hier leben.

Wie schwierig war es für dich, dich hier in Deutschland einzufinden?

Scherling Ich bin Deutsche, deswegen hatte ich keine Probleme damit. Es gab keine Sprachbarriere oder Ähnliches. Zuerst war natürlich alles fremd für mich, aber man lebt sich schnell ein.

Warum fällt es vielen Migranten, auch Russlanddeutschen, so schwer, sich zu integrieren?

Scherling Ich denke, man lebt am leichtesten da, wo man geboren wurde. Es ist eine große Umstellung, in einem fremden Land mit anderer Sprache und anderen Sitten zu leben.

Du hattest die deutsche Staatsangehörigkeit von Geburt an. Wie kam es dazu?

Scherling Meine Vorfahren sind dem Aufruf von Katharina der Großen gefolgt und nach Russland gezogen. Zu der Zeit war halb Deutschland in Russland! Seitdem wurde die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch an die Nachkommen der Deutschen weiter gegeben.

Habt ihr zu Hause Deutsch oder Russisch gesprochen?

Scherling Ich konnte bis zur Schulzeit kein Russisch, weil wir zu Hause nur Deutsch gesprochen haben. Erst mit der Zeit und durch den Umgang mit meinen Kameraden konnte ich mich auch auf Russisch verständigen.

Was hat dich schließlich dazu bewogen, nach Deutschland auszuwandern?

Scherling Ich wollte vor allem der Diskriminierung entfliehen, die ich in Russland wegen meiner deutschen Staatsangehörigkeit erlebt habe. Das schlimmste Erlebnis deswegen hatte ich mit acht Jahren, als die russische Obrigkeit mich und meine Familie aus Stalingrad nach Sibirien vertrieben hat.

Du bist erst viele Jahre später — vor 20 Jahren — nach Deutschland gekommen. Warum?

Scherling Vor dem Mauerfall hatte man in Russland nicht die Freiheit, nach Deutschland zu ziehen. Vermutlich wegen des Kalten Krieges. Als der Eiserne Vorhang endlich fiel, habe ich mich relativ spontan mit einem meiner Söhne und seiner Frau für die Auswanderung entschieden.

Bist du glücklich über deine Entscheidung?

Scherling Generell bin ich sehr zufrieden mit dem Leben in Deutschland. Aber ich vermisse viele Menschen, die ich in Russland zurückgelassen habe. Man kann nicht sagen, dass es in Russland oder in Deutschland besser ist. In jedem Land gibt es Probleme.

Deine Kinder und viele deiner Verwandten sind mittlerweile auch in Deutschland. Was denkst du, warum das so ist?

Scherling Meine Mutter hat schon immer gesagt: "Wir müssen zurück in die Heimat." Ich glaube, das Wichtigste ist, dass unsere Kinder und Enkel wieder wissen, dass sie Deutsche sind. Sie gehören einfach hierher.

Hast du einen Ratschlag für Einwanderer, die Probleme mit der Integration haben?

Scherling Man muss offen sein und bereit sein, dazuzulernen. Es hilft sehr viel, wenn ihr mit den Leuten in Kontakt kommt. Geht raus und versteckt euch nicht zu Hause!

(RP/ac)
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