Viersen "Meine Kinder sollen keine Angst haben"

Viersen · 160 Asylbewerber leben in Viersen, die Zahl steigt. Warum haben diese Menschen ihre Heimat und Familien hinter sich gelassen? Tsering Dolkar erzählt die Geschichte ihres Lebens auf der Flucht.

 Tsering Dolkar (36) hofft, dass sie mit ihrer Familie in Deutschland bleiben darf. Sie und ihr Mann besuchen Deutschkurse, die älteren Kinder die Schule und den Kindergarten.

Tsering Dolkar (36) hofft, dass sie mit ihrer Familie in Deutschland bleiben darf. Sie und ihr Mann besuchen Deutschkurse, die älteren Kinder die Schule und den Kindergarten.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Vor 17 Monaten ist Tsering Dolkar mit ihren Kindern in ein Flugzeug nach Frankfurt gestiegen, um die Angst hinter sich zu lassen. "Für mich selbst habe ich keine Erwartungen. Aber für meine Kinder: Sie sollen gute Menschen werden und ein gutes Leben haben." Die 36-Jährige, geboren in der Region Tibet im heutigen China, zählt zu den 160 Asylbewerbern in Viersen. Sie hofft hier auf ein Leben ohne Furcht und auf eins, in dem sie ihre Religion frei ausüben kann.

Wie ein Flüchtling hat sie sich schon als kleines Kind gefühlt. Ein Vierteljahrhundert vor ihrer Geburt war die chinesische Volksbefreiungsarmee in ihrer Heimat Tibet einmarschiert, 1951 wurde das Gebiet an China angeschlossen. Die Bevölkerung demonstrierte, die Chinesen schlugen die Aufstände nieder. Amnesty International berichtet, dass die Polizei noch im Oktober auf tibetische Demonstranten geschossen hat. Die Tibeter fühlten sich wie Flüchtlinge im eigenen Land, erzählt Tsering Dolkar. Deshalb flüchtete ihre Familie ins benachbarte Kathmandu in Nepal, als Tsering Dolkar noch ein Kind war. Eine wirtschaftliche Hilfe wie in Deutschland erhält die Familie nicht, doch sie bewältigt ihr Leben.

Dann verliebt sich Tsering Dolkar in einen Mann, der sich für die Unabhängigkeit Tibets einsetzt, und heiratet ihn. Bald kehrt die Angst zurück, die sie aus dem Tibet ihrer Kindheit kennt. Der Einfluss der chinesischen Regierung auf Nepal scheint zu steigen. Freunde und Bekannte, die sich für Tibets Unabhängigkeit engagieren, werden auch im Nachbarland verhaftet. "Wir hatten immer Angst", sagt Tsering Dolkar. "Man wusste nicht, wann sie kommen." Die Angst wirkt bis nach Deutschland. Tsering Dolkar möchte ihre Geschichte erzählen, um über das Leben von Flüchtlingen zu informieren. Ihr Familienname soll aber nicht in der Zeitung stehen — sie hat Angst, dass die chinesische Regierung es liest und den Familienmitgliedern in Tibet und Nepal etwas passiert.

Zur Flucht nach Europa entscheidet sich das Paar wegen der Kinder. Sie sollen eine Perspektive haben und ohne Angst leben können. In Deutschland kommt Tsering Dolkar mit ihren Kindern zuerst in einer der größten Anlaufstellen für Flüchtlinge in NRW unter, der Asylbewerberunterkunft im sauerländischen Hemer. Mehrere hundert Menschen sind dort untergebracht, haben wenig zu tun, keine gemeinsame Sprache — Tsering Dolkar erzählt nicht viel von der Zeit dort. Sie spricht lieber über Viersen: Nach einem halben Jahr in einer Asylbewerberunterkunft in der Stadtmitte wohnt sie mit den Kindern und ihrem Mann, der nachgekommen ist, in einer kleinen Wohnung. Ein kleiner Garten gehört dazu.

Die beiden älteren Kinder (sechs und acht Jahre) besuchen den Kindergarten und die Schule. Tsering Dolkar strahlt, wenn sie von den Lehrern erzählt und wie diese sich für ihre Kinder einsetzen. Auch die 36-Jährige und ihr Mann lernen Deutsch — in Kursen, die sie zum Teil selbst bezahlen. Vorgesehen ist es nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht, dass sich die Familie integriert. Deutschland bietet den Flüchtlingen Zuflucht, Verpflegung, Unterkunft — heimisch werden sollen sie hier aber erst, wenn sie ein Bleiberecht haben. Allerdings werden neun von zehn Anträgen auf Asyl abgewiesen.

Ob Tsering Dolkar bleiben darf und wann sie es erfährt, weiß sie nicht. Trotz der Ungewissheit betont sie, wie dankbar sie Deutschland ist. "Wir haben noch nie in unserem Leben etwas geschenkt bekommen. Hier bekommen wir so viel. Wir wollen allen Danke sagen."

Ihr Mann und sie wollen eines Tages alles zurückzahlen, was sie erhalten haben. Im Moment allerdings dürfen sie nur in sehr geringem Maß in der Asylbewerberunterkunft arbeiten. Was Tsering Dolkar tun will, falls sie nicht bleiben darf, weiß sie nicht. Sie hofft, dass es anders kommt — und ihre Kinder hier ohne Angst aufwachsen können.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort