Lebenserinnerungen einer Dülkenerin Von der Niederlausitz zum Niederrhein

Dülken · Die 87-Jährige Inge Sonntag hat nach Krieg und Flucht in Dülken eine zweite Heimat und ein eigenes Familienglück gefunden. Nun hat sie über ihr bewegtes Leben ein Buch geschrieben.

 Inge Sonntag hat ihre frühere Heimat verlassen und in Dülken ein neues Zuhause gefunden. Ihr Glück fand sie mit Ehemann Gert  (kleines Foto).

Inge Sonntag hat ihre frühere Heimat verlassen und in Dülken ein neues Zuhause gefunden. Ihr Glück fand sie mit Ehemann Gert  (kleines Foto).

Foto: Julia Esch

Ihren Vater habe sie zum letzten Mal 1944 gesehen: An Pfingsten hatten sie und ihre Mutter ihn besucht, in einem Lazarett im Sudetenland. Nach Ostpreußen hätte er im Juni gehen sollen, in die Feldbäckerei. Bäckermeister war er auch von Beruf, bevor der Krieg kam. „Auf dem Weg dahin hatte er Urlaub bekommen und hat uns besucht, für zwei Wochen“, sagt Inge Sonntag. Danach habe die heute 87-Jährige ihn nie wieder gesehen.

Im Jahr 1945 habe sie ihren Großvater verloren, ihre Tante und weitere Familienmitglieder. Und ihr Zuhause. Ihr Geburtsort Göhren in der Niederlausitz heißt heute Gorzyn, gehört zu Polen und war einer der Schauplätze der Vertreibungen von Deutschen zum Ende des Zweiten Weltkriegs. „Wir waren gerade am Mittagstisch. Da kamen Soldaten und trieben uns fort“, erinnert sich Sonntag. Mit einem Kinderwagen, einer Dreckkarre und etwas Hab und Gut im Gepäck seien sie losmarschiert, ohne zu wissen, wohin.

„Wir waren damals noch Kinder, und wir wurden mitten aus dem Leben gerissen“, schildert Sonntag ihre Erinnerungen. Die Erlebnisse aus ihrer Kindheit habe sie nie verkraftet.

„Ich wollte mir das von der Seele schreiben“, sagt die heute 87-Jährige. Auf 167 Seiten hat sie die Geschichte ihres Lebens aufgeschrieben, dazu gibt es in dem Büchlein historische Fotos ihrer Familie. Darin festgehalten sind lebhafte Erinnerungen an die Zeit in und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch an den Neuanfang und das Finden einer neuen Heimat. Über Jahre hinweg habe sie immer wieder Dinge aufgeschrieben, sagt Sonntag. Als ihr Mann Gert noch lebte, habe er sie immer darin bestärkt, daraus ein Buch zu machen. Eine elektrische Schreibmaschine, die er ihr schenkte, sollte ihr die Arbeit erleichtern. „Als er vor zehn Jahren starb, war ich geschockt und habe lange Zeit nichts gemacht“, erinnert sich die 87-Jährige.

Doch im vergangenen Jahr habe sie an ihrem Laptop wieder geschrieben, meist nachts. Und Inge Sonntag setzte sich zum Ziel: „Es wird ein Buch geben.“

Mit 22 Jahren kam Inge Sonntag nach Dülken. Davor lagen vielen Stationen an vielen Orten, auch ein Abschnitt in der DDR mit anschließender Flucht und einiger Zeit als Hausgehilfin in Westfalen. Während ihrer Zeit im Sauerland habe sie Briefkontakt zu ihrer Cousine aufgenommen, die in Dülken wohnte.

Am 10. November 1954 brach sie Richtung Rheinland auf. „Das war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt sie, „dass ich zu den Rheinländern kam.“ In Mönchengladbach angekommen, ging es per Straßenbahn nach Dülken weiter. „Ich wunderte mich damals über die Mädchen und Jungen mit ihren Laternen beim Martinszug. Ich wusste gar nicht, was los war“, erinnert sich Inge Sonntag.

Ihre Cousine erzählte ihr jedoch am selben Abend noch, dass sie nun verlobt sei, an Pfingsten heiraten und nach Marl-Hüls ziehen würde. „Dabei war ich doch dorthin gekommen, damit wir nicht mehr allein sind“, sagt Sonntag. Aber: „Ich bin hier geblieben, trotz der Sache mit meiner Cousine.“ Am nächsten Tag stellte sie sich einem kinderlosen Ehepaar vor, es wurde ihr neuer Arbeitgeber. Sie schaute sich am 11. November den Ritt um die Mühle an, damit begann der Karneval.

Als „zweite Heimat“ bezeichnet sie Dülken auf der letzten Seite ihres Buches, auch wenn sie beim Erzählen oft auch Göhren ihr Zuhause nennt. „Ich habe den größten Teil meines Lebens hier in Dülken verbracht“, sagt sie. Außer ihrer behüteten Kindheit vor der Vertreibung sei wenig gut gewesen, erinnert sich die Wahl-Dülkenerin.

Aber dies änderte sich, sobald sie in Dülken wohnte, vor allem, als sie ihre eigene Familie hatte: „Da wurde es wieder besser.“ Inge Sonntag heiratete 1964, ein Jahr später wurde sie Mutter. „Ich habe nur eine Tochter, aber dafür vier Enkelkinder“, sagt die 87-Jährige voller Stolz. Der Krieg lag nun Jahre zurück.

Doch vergessen habe sie die Flucht als Kind, die Nächte im Chaussee-Graben neben ihrer Mutter und ihrem Bruder sowie die ungewissen Tagesmärsche, stets voller Furcht vor herabfallenden Bomben, nie. „Ich sah, wie man Soldaten die Treppe herunter brachte“, erinnert sich Sonntag an die Zeit im Schloss Marquardt bei Potsdam, wo im Zweiten Weltkrieg ein Lazarett eingerichtet war. „Sie hatten manchmal keine Beine mehr oder nur einen Arm oder ein Bein.“

Auch den Tod ihres Großvaters, der schwer an Typhus erkrankt war und daran starb, beschreibt sie lebhaft. Das Schuldgefühl, mit dem sie später aufgewachsen und durch das Leben gegangen sei, habe sie nie losgelassen. Sonntag: „Wir waren Kinder, welche Schuld konnte uns da treffen?“

 Inge und Werner Sonntag an ihrem Hochzeutstag. Foto: Sonntag

Inge und Werner Sonntag an ihrem Hochzeutstag. Foto: Sonntag

Foto: Sonntag

Vor einigen Jahren habe sie das Grab ihres Cousins in Frankreich besucht, berichtet die 87-Jährige. Auf dem Soldatenfriedhof seien Grabsteine gewesen, soweit das Auge reicht, sagt Sonntag. Viele der Toten so jung wie ihr mit 18 Jahren gefallener Cousin. „Irgendwo auf der Welt ist immer Krieg, auch heute“, sagt Sonntag. „Das muss aufhören. Ich wünsche mir, dass alle Menschen auf der Welt friedlich miteinander leben dürfen und wollen.“

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