Kriegsende in Viersen Als die Bomben auf die Stadt fielen

Viersen · Der Süchtelner Otto Schäfer erlebte den Bombenangriff auf Viersen Anfang Februar 1945 aus nächster Nähe mit.

 Nach den Bombenangriffen 1945 waren von Häusern an der Hauptstraße – vorne das Blumenhaus der Firma Zevels – nur Trümmer übrig.

Nach den Bombenangriffen 1945 waren von Häusern an der Hauptstraße – vorne das Blumenhaus der Firma Zevels – nur Trümmer übrig.

Foto: Kreisarchiv

Was Otto Schäfer und viele andere Viersener am 9. Februar 1945 erlebt haben, „ist fast nicht zu beschreiben“, sagt der heute 87-Jährige. Doch er hat es versucht. In einem Buch, das seinen Enkeln gewidmet ist, erzählt Schäfer von jenem Tag vor fast genau 75 Jahren. Der damals Zwölfjährige fuhr am frühen Nachmittag mit der Straßenbahn von Süchteln nach Viersen. Er begleitete einen Schulkameraden, der sich eine neue Uniform kaufen wollte – beide waren in der Hitler-Jugend. „Als wir mit der Straßenbahn die Freiheitsstraße erreichten, gab es Fliegeralarm“, schreibt Schäfer in seinem Buch. „Ich schlug vor, einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Wir waren erst wenige Meter bis zur Remigiuskirche unterwegs, als Flugzeuge heranbrausten und im gleichen Moment nicht weit von uns entfernt Bomben einschlugen. Es war ein unheimliches Getöse.“

 „Der Weberbrunnen war früher mein Spielplatz“, erzählt der Süchtelner Otto Schäfer. Er wohnte als Kind an der Hochstraße.

„Der Weberbrunnen war früher mein Spielplatz“, erzählt der Süchtelner Otto Schäfer. Er wohnte als Kind an der Hochstraße.

Foto: Knappe, Joerg (jkn)

An jenem Freitag im Februar 1945 warfen 97 US-amerikanische Flugzeuge ab 14.50 Uhr 780 Bomben über dem Stadtzentrum ab. Wenige Wochen später der nächste Großangriff: Am 24. Februar fielen aus 210 Fliegern Bomben auf die Stadt. Bei beiden Angriffen starben insgesamt rund 260 Menschen. Der Historiker Leo Peters erläutert in einem Beitrag: „Während in vielen Teilen des Reiches noch erbittert gekämpft wurde, während man dort noch auf die Befreiung vom Nationalsozialismus warten musste, ging der Zweite Weltkrieg im Kreis Kempen – Krefeld mit dem Februar 1945 zu Ende. Im Westen des Kreises war der letzte Februartag zugleich der letzte Kriegstag. Am 1. März besetzten die Amerikaner etliche Orte.“

Schäfer und sein Schulkamerad schafften es am 9. Februar 1945 nicht mehr bis zum Bunker. Er schildert in seinem Buch: „Wir wollten in der Toreinfahrt des Stadthauses gegenüber der Adler-Apotheke Schutz suchen. Zu spät. Im selben Augenblick bekam ein Hinterhaus einen Volltreffer. Wir nahmen nur noch wahr, dass die Mauern uns entgegen stürzten.“ Schäfer rannte auf die Straße, 20 Meter vor und hinter ihm schlugen Bomben auf der Hauptstraße ein: „Es war die Hölle. Reflexartig duckte ich mich. An der Hand spürte ich einen kleinen Schlag von einem Stein, aber ich lebte. Dann wurde es dunkel. Eine gewaltige Staubwolke senkte sich über die Straße. Es war totenstill. Gespenstisch! Ich tastete mich langsam voran, bis ich eine Hauswand fühlte und in der Finsternis einen Hauseingang fand. Leichenblass und verstört stolperte ich in das Haus hinein.“

 Das Bild zeigt die Hauptstraße, nördlich der Einmündung Diergardtstraße. Über die Hauptstraße verliefen Schienen.

Das Bild zeigt die Hauptstraße, nördlich der Einmündung Diergardtstraße. Über die Hauptstraße verliefen Schienen.

Foto: Kreisarchiv

Schäfers älteste Tochter hat 2016 das Buch „Damals in Süchteln. Über 30 Szenen aus dem Leben eines Jungen, 1935 bis 1945“ für ihren Vater veröffentlicht. Der Pädagoge lebt seit den 50er Jahren nicht mehr in Süchteln, aber er verbrachte seine Kindheit und Jugend dort. Er wuchs an der Hochstraße auf, seine Eltern – er war Einzelkind – hatten einen Zigarrenladen. In seinem Buch hat er Anekdoten gesammelt, er schreibt über seinen ersten Frisörbesuch, den ersten Schultag, über Kunden, die im Hinterzimmer des Zigarrenladens heimlich Witze über Hitler erzählten.

 Beim Bombenangriff am 24. Februar brannte die Remigiuskirche. Am Nachmittag stürzte der Turmhelm ein.

Beim Bombenangriff am 24. Februar brannte die Remigiuskirche. Am Nachmittag stürzte der Turmhelm ein.

Foto: Kreisarchiv

Die erste Episode, die er aufschrieb, handelt vom 9. November 1938. Als Sechsjähriger erlebte er mit, wie schräg gegenüber vom Zigarrenladen SA-Leute das Haus der jüdischen Familie Lifges stürmten. „Schon wenige Augenblicke später wurden Nahrungsmittel, Möbel und Einrichtungsgegenstände aus dem ersten Stock in die Tiefe geworfen“, berichtet er. „Eine kleine Schar hirnverbrannter SA-Männer demolierte offenbar mit Lust und krimineller Energie das Anwesen unseres Nachbarn. Erschreckend für mich war besonders die (traurige) Tatsache, dass auch der Vater einer Klassenkameradin unter den Rowdies war. So etwas konnte ich nicht verstehen. Besonders erniedrigend war es, als die braunen Genossen sich ausgetobt hatten, dass die Nachbarn die Scherben ihrer eigenen Wohnung selbst wieder ins Haus schaffen mussten.“

 Auch Häuser an der Alten Bruchstraße, gegenüber der Tankstelle Jansen, wurden bei Bombenangriffen zerstört.

Auch Häuser an der Alten Bruchstraße, gegenüber der Tankstelle Jansen, wurden bei Bombenangriffen zerstört.

Foto: Kreisarchiv

Ab und zu fährt Schäfer von seinem Wohnort Leichlingen nach Süchteln, um ehemalige Klassenkameraden zu besuchen. An seine Kindheit denke er nicht mehr so oft, erzählt er. Doch bei einem Treffen neulich mit den alten Schulkameraden erinnerten sie sich an die Kriegszeit, „ich dachte, Menschenskind, das ist jetzt schon 75 Jahre her.“ Die Episode vor dem Haus der Familie Lifges ist Schäfer bis heute gut im Gedächtnis geblieben, vom Bombenangriff im Februar weiß er nur noch Bruchstücke: „In dem Augenblick, wo die Bomben fielen, hatte man das Gefühl in ein dunkles Nichts zu stürzen. Die Engländer haben dafür das bezeichnende Wort ,Maelstrom’. Man wird in das Dunkel hineingesogen, um fast im gleichen Augenblick befreit aufzutauchen“, erklärt er.

Was Schäfer genauso wenig vergessen hat wie die Ereignisse in der Pogromnacht: Die Texte der Lieder, die er bei der Hitler-Jugend lernte. „Die Lieder sitzen. Die sind wie eingebrannt“, sagt er. Das ganze System sei psychologisch sehr geschickt aufgebaut gewesen, „sich dem zu entziehen, war schwer“. In seinem Buch beschreibt er: „Die Pflichtveranstaltung Hitler-Jugend mit der Einstiegsdroge Jungvolk, auch Pimpfe genannt, wurde oft hingenommen, ohne allerdings die traditionell-christliche Grundhaltung aufzugeben. Nicht die Hitler-Jugend lockte uns, sondern die Aussicht auf richtige Spiele für Jungen, zum Beispiel Geländespiele, wozu die Süchtelner Höhen reichlich Gelegenheit boten.“ Reflektiert habe er damals nicht, sagt Schäfer. Das kam erst später. Damit seine sieben Enkel verstehen, wie er die NS-Zeit erlebte, hat er für sie sein Buch geschrieben. Ob sie es gelesen haben, „weiß ich nicht“, sagt er. „Aber falls noch nicht, dann eines Tages sicher.“

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