Viersen Erinnerungen an die jüdische Gemeinde

Viersen · 200 Menschen gehörten einst zur jüdischen Gemeinde in Viersen. Die Stadt bewahrt Gegenstände auf, die an ihr religiöses Leben erinnern. Vier Exponate sind nun am Mittwoch in der Villa V an der Burgstraße zu sehen.

Eine winzige silberne Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger sitzt an der Spitze eines schmalen Stabes. Vorsichtig legt Stadtarchivar Marcus Ewers den Stab auf den Tisch. Es ist eine "Jad", ein Zeigestab, der dem Vorleser in der Synagoge anzeigt, welche Stelle gelesen werden soll. Denn wenn der Vorleser aus der Thora, der heiligen Schrift des Judentums, liest, darf er die Thorarolle nicht berühren. Das Wort Gottes ist heilig.

Der Zeigestab mit der winzigen Hand gehört zu den Gegenständen jüdischer Heimatgeschichte, die die Stadt Viersen aufbewahrt. Sie gehörten einst der jüdischen Gemeinde. Vier Exponate sind am Mittwoch in der Villa V zu sehen, wenn Gerda-Marie Voß zum "Kulturkabinett" einlädt. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages, der jährlich am 27. Januar an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 erinnert, gibt es eine Podiumsdiskussion.

RP-Redakteur Holger Hintzen spricht über die Recherchen für sein Buch "Paul Raphaelson und Hans Jonas", in dem er den Weg von zwei jüdischen Bürgern aus Mönchengladbach nachzeichnet. Die Künstlerin Marianne Reiners-Maaz zeigt in einer Wandinstallation 40 Porträts jüdischer Kulturschaffender. Ewers stellt die Exponate aus der jüdischen Gemeinde vor.

Die Ausstellungsstücke geben einen Einblick in jüdisches Leben. Neben dem Zeigestab hat Ewers aus der stadtgeschichtlichen Sammlung eine Schabbat-Lampe mitgebracht. Der sternförmige Leuchter hängt über dem Esstisch. Das Licht wird am Freitagabend von der Hausfrau entzündet - 18 Minuten vor Sonnenuntergang.

Dann beginnt der Schabbat. Er dauert bis zum Erscheinen der ersten drei Sterne am Samstagabend. Am Schabbat darf nicht gearbeitet und kein Feuer entzündet werden. Denn am siebten Tage (daran erinnert der Schabbat) ruhte Gott der Schöpfungsgeschichte zufolge. Also soll auch der Mensch ruhen.

Weiter hat Ewers zwei Widderhörner mitgebracht. Das Widderhorn, Schofar genannt, wird zu besonderen Festtagen im Gottesdienst geblasen. Das Widderhorn erinnert an die Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn Isaak an Gott zu opfern. Doch dann opfert Abraham Gott einen Widder. Die Widderhörner wurden im Viersener Heimatmuseum aufbewahrt und erst 1997 als Schofaroth erkannt. Zuvor wurden sie in der alten Inventarliste des Museums als "Signalhörner der Viersener Polizei" geführt.

Das vierte Exponat, das in der Villa V zu sehen ist, ist ein Fragment eines Textes. Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch die Dülkener Synagoge gegenüber der Christuskirche an der Bahnhofstraße (heute Martin-Luther-Straße) von Nationalsozialisten in Brand gesteckt wurde, rettete Franz Dommers dieses Fragment aus den Flammen. Wovon der Text handelt, weiß Ewers nicht. Bislang fehlte ein Helfer, der die hebräische Schrift hätte übersetzen können.

Der Stadtarchivar vermutet, dass der Zeigestab, die Schabbat-Lampe und die Schofaroth aus dem Bethaus der jüdischen Gemeinde in Viersen stammen. Um 1860 erwarb die Gemeinde das Haus an der Rektoratstraße 10. Im Erdgeschoss war die jüdische Schule untergebracht, im Obergeschoss der Betsaal. Als die Gemeinde das Gebäude kaufte, waren Juden schon über Jahrhunderte in Viersen ansässig - ebenso wie in Dülken und Süchteln. Ein Dülkener Jude wird erstmals im Jahr 1340 erwähnt. Später zeugen Geleitbriefe davon, dass sich Juden den fürstlichen Schutz erkauften, um sich in Viersen und Umgebung niederzulassen. Diese Geleitbriefe haben sich in den Archiven erhalten.

Gab es 1927 noch 200 Juden in der Stadt Viersen, wurden zwischen 1933 und 1942 insgesamt 167 gezählt. Viele wanderten aus, 56 von ihnen starben in Konzentrationslagern. Der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde, David Katzenstein, der an der Hauptstraße ein Textilgeschäft betrieb, emigrierte 1939 nach Tel Aviv. Das Bethaus an der Rektoratstraße wurde 1940 enteignet, der Grundbesitz ging an die Stadt über. Die letzten neun jüdischen Männer, Frauen und Kinder wurden 1942 von Viersen nach Theresienstadt gebracht. Unter ihnen war auch der Lehrer der jüdischen Schule und Kantor der Gemeinde, Israel Nussbaum. Er starb 1942 in Theresienstadt, seine Frau Bertha 1943. Tochter Annie wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

(RP)
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