Wirtschaft im Kreis Viersen Energieversorgung – „Die Situation ist prekär“

Kreis Viersen · Die Industrie- und Handelskammer fordert ein Ende der Debatte über einen vorgezogenen Braunkohle-Ausstieg und kürzere Genehmigungsverfahren für Windenergiezonen. „Sonst haben wir Chaos.“

 Blick auf Windräder vom Amerner Weg in Viersen-Dülken in Richtung Dilkrath.

Blick auf Windräder vom Amerner Weg in Viersen-Dülken in Richtung Dilkrath.

Foto: Busch, Franz-Heinrich sen. (bsen)

Steigende Strom- und Gaskosten, Spritpreise auf Rekordniveau und ein drohender Gaslieferstopp Russlands – kaum ein Thema bereitet den Unternehmen derzeit so große Sorgen wie die Energieversorgung. Die Vollversammlung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein fordert deshalb unter anderem ein Ende der Diskussionen um einen vorgezogenen Ausstieg aus der Braunkohlverstromung, Anreize für Investitionen in Netzkapazitäten sowie den massiven Ausbau erneuerbarer Energien und der Wasserstofftechnologie. „Unsere Positionen zielen darauf ab, die wirtschaftliche Stärke unserer Region zu erhalten und sie in die klimafreundliche Zukunft zu führen“, sagte IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz.

IHK-Präsident Elmar te Neues betonte: „Das Thema beschäftigt uns nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine.“ Dennoch verschärfe der Konflikt die Situation, berichtete Kurt Vetten, Geschäftsführer der SME Management GmbH, die im Auftrag der IHK im Rheinischen Revier die Energiesicherheit untersucht hat. Denn: Bei der Festlegung des Ausstiegs aus der Kohleverstromung sei die Gasversorgung stets als sichere Übergangstechnologie angenommen worden, so Vetten. Diese Voraussetzung habe sich mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine dramatisch geändert. Daher müsse der Ausstiegspfad der Kohleverstromung im Hinblick auf die Versorgungssicherheit bei Bedarf angepasst werden. „Bis Ende dieses Jahres sollen laut Kohleverstromungsbeendigungsgesetz im Rheinischen Revier gut 2,8 Gigawatt Kraftwerksleistung abgeschaltet werden, ohne dass bisher nennenswerte Ersatzkapazitäten für die Bereitstellung von adäquater gesicherter elektrischer Leistung geschaffen wurden“, so Vetten. Laut der IHK-Studie können die Braunkohlekraftwerke durch Verlängerung der Sicherheitsbereitschaft bei Einhaltung des Ausstiegsdatums 2038 einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung der Sicherheit der Stromversorgung leisten. „Die Lage ist prekär“, erklärte Vetten. „Wir müssen mit den aktuell vorhandenen betriebsfähigen Anlagen jetzt die Versorgungssicherheit gewährleisten – sonst haben wir Chaos.“

Zudem müsse der Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigt werden. Zur Einhaltung des „Gigawatt-Paktes“, der mehr als die Verdopplung der erneuerbaren Kapazitäten im Rheinischen Revier bis 2028 vorsieht, müssten rechnerisch knapp zwei Windkraftanlagen pro Woche in Betrieb genommen werden. Das wären rund 104 Anlagen im Jahr. Laut Landesverband Erneuerbare Energien wurden im Jahr 2021 in ganz NRW lediglich 83 neue Windkraftanlagen in Betrieb genommen. Deshalb müssten Planungs- und Genehmigungsprozesse verkürzt und zügig Flächen für erneuerbare Energien festgelegt werden, erklärte der Experte. Sonst seien die Ausbauziele nicht zu schaffen.

Angesichts der aktuellen Lage gewinne auch der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft an Bedeutung. Bleiben die Erdgaspreise nachhaltig hoch, müssten bereits ab dem Jahr 2035 zur Vorhaltung einer gesicherten Leistung im Rheinischen Revier erste wasserstoffbetriebene Kraftwerke in Betrieb genommen werden. Beim Strom seien Unternehmen aus Industrie und Gewerbe schon jetzt vermehrt von Netzrückwirkungen betroffen, berichtete Vetten. Vor allem bei einer „Dunkelflaute“, also in Zeiträumen, in denen die Sonne nicht scheint und gleichzeitig weitgehend Windstille herrscht, sorge die derzeit noch nicht ausreichende gesicherte Leistung von Photovoltaik- und Windenergie für Probleme im Netzverbund. Zusätzlich werde es immer herausfordernder, die notwendige Spannung und Frequenz im Netz aufrecht zu erhalten. Denn auch dazu tragen unter anderem die Braunkohlekraftwerke im Rheinischen Revier maßgeblich bei. Diese „Systemdienstleistungen” der Kraftwerke zu ersetzen, benötige ebenfalls Zeit. 

Bei der Transformation im Rheinischen Revier müssten deshalb nicht nur die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut, sondern gleichzeitig müsse auch die Netzkapazität gesteigert werden. „Verlässliche Energie bildet das Fundament unserer industriellen Wertschöpfungsketten. Eine Verschlechterung der Versorgungssicherheit – selbst schon geringe Netzschwankungen – können zu erheblichen Produktionsausfällen und Anlagenschäden führen“, mahnte Vetten.

Die Wirtschaft sei aufgrund des sehr hohen Preisniveaus, vor allem aber aufgrund des sinkenden Vertrauens in eine dauerhaft sichere Energieversorgung äußerst beunruhigt, berichtete der SME-Geschäftsführer. Bange Blicke richten sich auf die Pipeline Nordstream 1, durch die Russland derzeit wegen angeblicher Reparaturarbeiten nur noch 60 Prozent des Gases schickt. Viele Unternehmen aber, die auf Gas für Prozesswärme angewiesen sind, können ihre Produktionsprozesse nicht kurzfristig umstellen. Sollten sie von der Gasversorgung abgeschnitten werden, müssten sie ihre Produktion einstellen. Dabei würden manche Anlagen irreversibel geschädigt.

Für ihre Analyse hat SME Management GmbH eine Vielzahl von Studien zum Rheinischen Revier ausgewertet und rund 50 Vertreter von vornehmlich mittelständischen Unternehmen aus den Bezirken der IHK Mittlerer Niederrhein, Aachen und Köln befragt.

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