Viersen Anne-Sophie Mutter – eine Diva in Viersen

Viersen · Gelegentlich gönnt man sich am Niederrhein etwas: Die weltberühmte Geigerin spielte zur 100-Jahr-Feier der Festhalle Viersen.

 Anne-Sophie Mutter und Musiker der Sinfonia Varsovia aus Warschau in der Viersener Festhalle.

Anne-Sophie Mutter und Musiker der Sinfonia Varsovia aus Warschau in der Viersener Festhalle.

Foto: Busch, Franz-Heinrich sen. (bsen

Als das außerordentlich animierte Viersener Publikum zum Pausensekt schritt und die Impressionen der ersten Konzerthälfte Revue passieren ließ, hörte man aus dem Gemurmel immer wieder einen einzigen Satz heraus: "Wie ist sie hineingekommen?"

Hineingekommen — worein? In dieses Kleid von außerordentlichem Aufmerksamkeitswert? Nun, die Dame ist nicht mehr jener Backfisch, der einst unter Herbert von Karajan als pausbäckiger Kinderstar bekannt wurde. Seit Jahren ist sie gertenschlank, treibt täglich Sport und pflegt ihre Silhouette, was Vorteile für den Kleiderschrank hat: Sie muss nicht immer neue Roben kaufen.

Just dieses Viersener Kleid kennen wir seit einigen Jahren, sie trug es im Fernsehen und auf dem Cover ihrer Mendelssohn-CD von 2008. Eine Dame in der Festhalle meinte aber, ein solches Türkis habe sie noch selten gesehen, und geschneidert habe das bestimmt Louis Vuitton oder so jemand. Als jedenfalls Frau Mutter das Podium betrat, hielt ein ganzer Saal den Atem an und drohte reanimationspflichtig zu werden. Dann aber begann sie zu spielen, und alles wurde gut.

Hineingekommen — worein? In die Festhalle? Nun, wie die große Anne-Sophie Mutter ins kleine Viersen gelangte, das ist eine Geschichte, die genau 100 Jahre alt ist. Viersens gute Stube wurde 1913 eröffnet, sie erlebte seitdem ebenso grandiose Abende wie graue Tage.

Seit langem ist sie der wichtigste Veranstaltungsort der Stadt am Niederrhein, die Musikschule residiert nebenan, es gibt ein reges Kulturangebot, im September lockt das Jazz-Festival, außerdem werden hier die Weltmeisterschaften im Dreiband-Billard ausgetragen. In Viersen läuft die Kugel ruhig.

Aber im Jubeljahr darf und soll es eine Anne-Sophie Mutter sein, deren Gagen sich im höheren fünfstelligen Bereich bewegen. Die Sponsoren (Sparkasse Krefeld und Förderverein der Festhalle) greifen in die Schatulle und der Stadt Viersen unter die Arme, und gern zahlt das Publikum deutlich höhere Preise als sonst — wenn schon ein Hauch von Jet-Set und Weltklasse nach Viersen weht!

Anne-Sophie Mutter wird das reißerische und mondäne D-Dur-Konzert von Tschaikowski spielen, aber bis es so weit ist, betreibt das Programm schlaue Kombinatorik: vor der Pause gibt es Werke von Witold Lutoslawski und Benjamin Britten, die ebenfalls Jahrgang 1913 sind, zudem ein mystisches Opus von Arvo Pärt, das Britten gewidmet ist. Alles bezieht sich auf alles, und sofern eine Frau Mutter mitwirkt, könnte man vermutlich auch das Violinkonzert von Aloysius Brunnenschlegel aufführen.

Zuerst spielt sie aber Lutowslawskis Partita, und die Festhalle erlebt die Verschmelzung von Körper und Stradivari. Sie strichelt die Töne, packt sie in Watte, lässt sie schnauben und dröhnen, über die Saiten fährt der Bogen hier wie ein Liebhaber, dort wie Sandpapier, wieder hält der Saal den Atem an, denn solches Geigenspiel erlebt man nicht alle Tage, und es dauert eine geraume Zeit, bis sich einige Hörer daran erinnern, dass der Februar eigentlich ein Monat für Erkältungskrankheiten ist.

Das Werk macht großen Eindruck, auch wenn es sich unverkennbar um jene Form von Moderne handelt, die in Viersen wie anderswo nicht zu den Hauptnahrungsmitteln zählt. Aber Frau Mutter nobilitiert die Aufmerksamkeit des Publikums; auch die Sinfonia Varsovia unter Michael Francis gibt ihr Bestes, und das ist nicht wenig.

Zugänglicher sind da schon Brittens Variationen über ein Thema von Frank Bridge, deren Etappen man gern folgt, auch weil sie so mundgerechte Überschriften wie "Wiener Walzer" oder "Trauermarsch" tragen. Da weiß man doch, wo man ist. Pärts "Cantus in Memoriam Benjamin Britten" erlebt man als mahlende Etüde über die Wucht abwärts steigender, sich immer weiter dehnender Tonleitern.

Nun aber heißt es endlich anschnallen, denn Anne-Sophie Mutter gibt Tschaikowski und seinem Konzert die Sporen. Jetzt sieht man Gesichter im Saal, wie man sie früher im Zirkus Krone erlebte: Was für eine anspringende Geläufigkeit, was für schneidige Doppelgriffe, was für leuchtende Flageoletts, was für hingezuckerte Melodien!

Manchmal verliert sich Süße in purem Schwelgen und — etwa in der Canzonetta — das Geigenspiel seinen Zusammenhang, aber wir wollen nicht meckern, denn dermaßen atemberaubend bekommt man das Finale selten geboten. Das ist eine Folge schockierender Salti, prasselnden Lagenspiels, virtuoser Attacken, die sich auch eine Anne-Sophie Mutter nicht immer zumutet. Ausgerechnet in Viersen geht die Künstlerin an ihre Grenzen, und selbst wenn es kurz vor Ende für exakt 1,35 Sekunden einen Schreckmoment gibt, so kommen alle doch unfallfrei und brillant ins Ziel.

Danach zeigt Viersen, wie sich ein Auditorium zu Ovationen im Stehen hochreißt, jetzt herrscht eine Festtagsstimmung, die eines Jubiläums würdig ist. Als dann der Bürgermeister einige wohlgesetzte Worte spricht, schaut die Diva fast ein wenig gerührt, dass sie dem kleinen Viersen zu einer großen Stunde verholfen hat. Anne-Sophie Mutter ist aber auch eine verständige Künstlerin, die sich ganz dem Orchester zuwendet, als der Dirigent dessen Solisten aufstehen lässt. Das Kleid sitzt immer noch phänomenal. Tja, die Dame wird — noch ein Jubiläum — in diesem Jahr 50 Jahre alt.

Wer übrigens lobte die in der Tat hinreißende Akustik der Festhalle einmal mit klingenden Worten? Es war, bei einem Gastspiel vor vielen, vielen Jahren mit den Berliner Philharmonikern, ausgerechnet jener Mann, der später das Fräulein Mutter weltberühmt machte: Herbert von Karajan. Schöner schließt sich selten ein Kreis.

(RP)
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