Schiedsamt Die Tönisvorster Streitschlichter

Tönisvorst · Clemens Braun und Udo Beine sorgen in der Apfelstadt dafür, dass die Menschen miteinander sprechen.

 Clemens Braun (li.) ist Schiedsmann in St. Tönis, Udo Beine in Vorst. Das Foto entstand vor den Kontaktbeschränkungen.

Clemens Braun (li.) ist Schiedsmann in St. Tönis, Udo Beine in Vorst. Das Foto entstand vor den Kontaktbeschränkungen.

Foto: Emily Senf

Die erste Frage lässt einige Besucher direkt ins Trudeln kommen: „Haben Sie denn schon mal mit dem anderen darüber gesprochen?“ Denn tatsächlich haben das viele noch nicht gemacht, wenn sie zu Clemes Braun oder Udo Beine kommen – mit ihrem Kontrahenten darüber reden, warum es gemeinsam nicht klappt. Als Schiedsmänner sorgen Braun und Beine bei Streitigkeiten dafür, dass die Tönisvorster miteinander ins Gespräch kommen und im besten Fall eine gemeinsame Lösung finden. Nur wenn das nicht gelingt, ist eine Klage vor Gericht überhaupt erst möglich.

Braun und Beine sitzen in Beines Arbeitszimmer in seinem Haus in Vorst und berichten aus ihrem Alltag. Sie können skurrile Geschichten erzählen, wie die eines Bauernsohnes, der sich in die Tochter jenes Landwirts verliebt hatte, mit dem sein Vater nicht konnte. Als die Beziehung der Kinder auseinanderging, ritt der Sohn mit seinem Pferd zum Haus der Tochter und ließ sein Pferd den Vorgarten umpflügen – und dazu noch die Haustür eintreten. „Aber wir haben eine Lösung gefunden“, beteuert Beine und schmunzelt.

Viel häufiger geht es allerdings um Nachbarschaftsstreits. Gerade in St. Tönis sehe die Bebauung keine großen Grundstücke vor, da seien Grenzstreitigkeiten programmiert, sagt Braun. Seit gut einem Jahr ist er der Schiedsmann für den Stadtteil. Sein erster Fall sei ein typischer Konflikt gewesen: ein älterer Mann, der seine Ruhe wollte, und eine junge Familie, deren Kinder im Garten tobten. Auch sie hätten vorab nicht miteinander gesprochen, sondern stets das Schlimmste vom anderen angenommen, berichtet Braun. Gemeinsam mit dem Schiedsmann hätten sie dann Zeiten und Bereiche festgelegt, so dass jeder Raum für sich habe. „Es ist die helle Freude, wenn man merkt: Die reden miteinander“, sagt der 67-Jährige. 25 Gespräche hatte er in seinem ersten Jahr, bei zehn ist es zur Verhandlung gekommen.

Wer ein Problem mit jemand anderem hat, geht zum Schiedsmann in dem Stadtteil, in dem er wohnt. Der Schiedsmann ist ehrenamtlich tätig. Der jeweilige Stadtrat wählt ihn, eine Amtsperiode dauert fünf Jahre. Bewerber müssen mindestens 30 und dürfen bei der ersten Wahl maximal 70 Jahre alt sein. Grundsätzlich müsse man keine Qualifikationen mitbringen, sagt Beine, man sollte aber Sachkunde haben. Das Schiedsamt untersteht dem Amtsgericht. Im Bereich des Strafrechts betrifft es etwa Beleidigung, Körperverletzung, Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch. Bei Zivilstreitigkeiten sind es beispielsweise Konflikte unter Nachbarn, Verletzungen der persönlichen Ehre und sonstige Fälle, bei denen es um Ansprüche bis zu einem Wert von 600 Euro geht. Hatte die Schlichtungsverhandlung keinen Erfolg, erhalten die Beteiligten darüber eine amtliche Bescheinigung, die eine Klage vor Gericht ermöglicht.

Beine (70) ist erst der zweite Schiedsmann überhaupt in Vorst. Sein Vorgänger hatte den Posten nach 35 Jahren abgegeben, Beine selbst befindet sich im 29. Jahr seiner Tätigkeit. Bis zur Rente arbeitete er im Innenministerium. Der gebürtige Oldenburger will weitermachen, solange es geht. „Ich bin nicht übertrieben harmoniebedürftig, sondern kann auch streiten, aber ich finde, dass man immer auch einen Kompromiss finden wollen muss.“ Braun war zuvor stellvertretender Leiter einer Gesamtschule in Mönchengladbach. Dort habe er gelernt, Kompromisse zu finden, aber „der Druck von damals ist weg“, sagt er. Sollten sich zwei Streithähne nicht einigen, hängt für Braun heute davon nicht mehr schlimmstenfalls das Wohl einer ganzen Schule ab.

Beide führen für ihre Tätigkeit etwa zwei bis drei Telefonate pro Woche, monatlich sind es rund zehn Gespräche vor Ort. Die Beteiligten stammen aus allen Schichten. „Das macht es spannend“, sagt Braun. Am liebsten sind Beine die „Tür und Angel“-Fälle: Jemand kommt vorbei, erzählt von einem Problem, sofort wird eine Lösung gefunden. Häufiger allerdings schwelen Konflikte seit vielen Jahren und brechen plötzlich auf. In anderen Fällen gelten alte Vereinbarungen mit Nachbarn nicht mehr, weil jemand Neues dazuzieht. „In Vorst steht dann schon mal die halbe Straße da“, sagt Beine und lacht. „Das sieht brisant aus, lässt sich aber meist schnell auf eine sachliche Ebene bringen.“ In St. Tönis hätten die Menschen dagegen schon eher beim ersten Gespräch einen Anwalt oder sogar einen Lärmschutzgutachter dabei.

Am wichtigsten sei es, alle mit Respekt zu empfangen. „Sie müssen schließlich eine Hemmschwelle überwinden“, sagt Braun. Beine bestätigt: „Egal, was es ist, wir nehmen jedes Problem ernst.“

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