Ansichtssache Was alle anderen von Mevlüde Genç lernen können

Meinung | Solingen · Das Gedenken an den Brandanschlag droht zum Politikum zu werden. Alle, ob Deutsche oder Türken, sollten sich ein Beispiel an Mevlüde Genç nehmen.

Nach der Ankündigung des türkischen Außenministers Mevlüt Çavusoglu, am 29. Mai nach Solingen zu kommen und an der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag des Brandabschlages teilzunehmen, war die Aufregung in dieser Woche groß. Denn knapp vier Wochen später stehen Präsidentschaftswahlen in der Türkei an. Und die aktuelle türkische Regierung ist bei Auftritten im Ausland bis dato nicht eben über Gebühr durch politische Zurückhaltung aufgefallen.

Also waren die Diskussionen, die folgten, alles andere als überflüssig. Wobei in der Solinger Öffentlichkeit - durchaus auch selbstkritisch - angemerkt werden sollte, dass so der gewünschte Charakter der Gedenkfeier in den Hintergrund rückte. Eigentlich ist geplant, dass der 25. Jahrestag des rechtsradikalen Mordanschlags auf die Familie Genç zum stillen Gedenken genutzt wird. Zur Erinnerung an fünf Tote, 17 zum Teil Schwerstverletzte sowie an die Leiden der Überlebenden, für die die Erlebnisse des 29. Mai 1993 eine nie verheilende Wunde sind.

All das kam zu kurz. Stattdessen wurde über die Motive Çavusoglus, nach Solingen zu kommen, geredet. Und im Netz lieferten sich Deutsche wie Türkeistämmige Wortgefechte, die oft ein erschreckendes Maß an Geschichtsvergessenheit sowie Ignoranz erkennen lassen. Wenn etwa ein Türke die Situation der Türken in der Bundesrepublik mit der Lage der Juden im "Dritten Reich" gleichsetzt, ist dies genauso verwerflich wie die Bezeichnung "Kristallnacht" durch einen Deutschen für die Ausschreitungen in den Tagen nach dem Brandanschlag.

Angesichts des bevorstehenden Jahrestages ist es höchste Zeit für eine Mäßigung. Dass mit Landtagspräsident André Kuper und Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp auch zwei prominente deutsche Politiker nach Solingen kommt und weitere eventuell folgen, ist zu begrüßen. Und vielleicht macht ja auch der Besuch des türkischen Außenministers Sinn. Immerhin haben sich die Genç' einen Vertreter der türkischen Regierung gewünscht. Es ist an Mevlüt Çavusoglu, einen guten Auftritt aus seinem Besuch zu machen. Was so schwer nicht sein sollte. Schließlich gibt Mevlüde Genç seit 25 Jahren das beste Beispiel für Versöhnung ab. Sie hat immer - trotz des Leids, das über ihre Familie gekommen ist - die richtigen Worte gefunden. Wenn sich alle davon ein Stück abschneiden, wäre viel gewonnen. Und der Gedenktag würde zu dem, was er sein soll: ein würdevolles Erinnern.

(or)
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