Solingen Ungehorsam rettete die Brücke

Solingen · In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, am 14. April 1945, sollte die Müngstener Brücke gesprengt werden. Wie es dazu kam, das hat Erwin Kemper aus Bengelshagen bei Wipperfürth selbst erlebt. Nach 66 Jahren erzählt er seine Geschichte. Sie begann mit seiner Flucht aus der Wehrmacht.

Müngstener Brücke - eine Chronologie
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Müngstener Brücke - eine Chronologie

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Foto: Martin Kempner (Archiv)

Die Tränen kommen, als er den Kopf in den Nacken legt. Die Brücke sieht von unten so zerbrechlich aus. Doch im Tal steht sie auf massiven Fundamenten. Spatenstich um Spatenstich mühen sich die Soldaten, die Sockel freizulegen. Der Oberleutnant will um das Fundament eine Manschette aus Sprengstoff legen, der Pionier hatte schon mit den Berechnungen begonnen. Es ist der Morgen des 14. April 1945. Erwin Kemper, heute 84 Jahre alt, gehört zu dem Kommando, dass die Müngstener Brücke sprengen soll.

Der Befehl zur Sprengung

Ein Spatenstich tief, zwei Spatenstiche. Trotz der Kälte schwitzten die vier Wehrmachtssoldaten. Den Luftwaffen-Mantel hat Erwin Kemper längst abgelegt. Zu viert schuften sie. In wenigen Stunden soll die Brücke in sich zusammenstürzen, doch es kommt anders.

Die Geschichte zur Rettung der Müngstener Brücke beginnt ein paar Tage vorher. Im Lager der Flagabteilung 463 in Westfalen. Am Tag zuvor hatte ein unerfahrener Offizier die Männer direkt in den Ruhrkessel geführt. 40 Soldaten fielen sofort. In der Nacht fassen Kurt Eschbach und Erwin Kemper den Entschluss, zu desertieren. Kurt Eschbach kennt den Schrank, in dem die Wehrpässe liegen. Die Dokumente sind Fahrkarten in die Freiheit. Mit den richtigen Stempeln können ihnen die Feldjäger nichts anhaben.

Noch in der Nacht machen sie sich auf den Weg. Eschbach will sich nach Marialinden durchschlagen, Kemper nach Wipperfürth. Die Soldaten stehlen ein Motorrad und fliehen Richtung Süden. Die Freiheit nur ein paar Kilometer entfernt. Doch es soll Monate dauern, bis Erwin Kemper frei sein wird.

Während die beiden jungen Männer auf ihrer gestohlenen 125er DKW flüchten, werden die Kämpfe um den Ruhrkessel immer heftiger. In Berlin hatte Adolf Hitler längst seinen Befehl zur "verbrannten Erde" gegeben. Die beiden Soldaten fahren die ganze Nacht hindurch. Am Morgen erreichen sie Remscheid. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Eine Frau steht vor dem Haus und hängt Wäsche auf die Leine. Die Soldaten brausen auf ihrem Motorrad heran. "Haben Sie etwas Warmes?", fragen sie. Die Frau nickt und holt die Männer in ihre Küche. Der Kaffee duftet. In weniger als einer Stunde würden sie Wipperfürth erreichen. In der Heimat, in Sicherheit.

Die beiden Deserteure fliegen auf. Noch in dem Haus in Remscheid werden sie von einem SS-Mann verhaftet. Statt der standrechtlichen Erschießung sollen sie wieder an die Front. "Das war ein Haufen Fanatiker, der noch vom Endsieg träumte", erinnert sich Erwin Kemper heute. Die SS bringt ihn nach Remscheid. In einem Gasthof kommt es zu einem unerwarteten Wiedersehen. Wie angewurzelt steht Josefa Kausemann hinter dem Tresen. Die Wirtin kennt den jungen Soldaten, der mit seinen Bewachern eine Rast einlegt.

Der junge Mann stammt vom Kempers-Hof in Bengelshagen. Josefa Kausemann war mit ihrem Mann Otto von Dohrgaul nach Remscheid gezogen, vor dem Krieg hatten sie das Gasthaus in der Nähe der Talsperre übernommen. In Dohrgaul waren die Kempers praktisch Nachbarn. Jetzt suchen die Augen des jungen Mannes den Schankraum ab. Die Wirtin überlegt. Wenn sie ihn hier hinausschaffen könnte, mit Kleidern ihres Mannes würde er es nach Hause schaffen. Aber der SS-Mann passt auf.

In wenigen Stunden wird Erwin Kemper unter der Müngstener Brücke stehen. Doch davon weiß er zu diesem Zeitpunkt nichts. Im Gegenteil. Gerade hat er sich wieder abgesetzt. In einem Wald bei Solingen. Mit einer Kolonne, die Haubitzen zu den letzten Resten der Wehrmacht bringen soll. Ein zweites Mal ist die Flucht zu Ende. SS-Leute, die hinter der Wehrmacht herziehen, stellen die Deserteure gleich wieder. Es geht direkt nach Solingen. Zum Sprengkommando.

Kemper und sein Offizier sitzen unter der Brücke. Sie schauen nach oben. Kemper berichtet von seiner Schulzeit. Die Volksschüler hatten die Brücke besucht, staunten über die riesige Stahlkonstruktion. Der Offizier zweifelt selbst, hat den Befehl hinausgezögert. Als die Männer aufstehen, nickten sie sich zu "also sind wir uns einig?", fragt Kemper. Der Oberleutnant nickt, keiner der Männer will die Brücke fallen sehen.

Das Sprengkommando lässt die Schaufeln zurück. Den Sprengstoff packen die Männer ein. Sie fliehen. Weg von der Front. Sie kommen nur wenige Kilometer weit. Die US-Truppen hatten schon seit Anfang April die Nachschublinien ausgebaut. Nur noch wenige Tage bis zum Erreichen der Elbe. Erwin Kemper wird gefangen genommen.

Sein Herz schlägt so laut, dass es jeder seiner Kameraden hören muss. Zusammengepfercht kauern sie auf der Pritsche des amerikanischen Lastwagens. Der Lkw holpert über die Hochstraße von Wipperfürth. Erwin Kemper schaut sich um, am Straßenrand sieht er einen Mann, er erkennt nicht, wer es ist.

Ironie des Schicksals: Die Kriegsgefangenen werden durch Wipperfürth gefahren. Doch die Lastwagen mit den Soldaten brausen ohne anzuhalten durch die Stadt.

Ein Unbekannter hilft

Als die Kolonne verschwunden ist, bückt sich der Passant. Er hebt die kleine Karte auf, die auf den Gehweg geflattert war. Es ist das Foto eines jungen Mannes. Auf der Rückseite liest er ein paar hastig gekritzelte Zeilen, geschrieben mit Bleistift. "Erwin Kemper, Bengelshagen". Er setzt sich auf sein Fahrrad und fährt los. Aus dem Unbekannten wird ein Bote der Hoffnung. Erwin Kemper hat die verzweifelte Botschaft auf gut Glück vom Transporter geworfen. Der Unbekannte bringt sie sofort zum Hof der Eltern. Drei Monate sollte es noch dauern, bis Erwin Kemper selbst nach Hause zurückkehrt.

Das geschieht am 14. Juni 1945. Auf den letzten Metern zum Hof der Eltern spürt er keine Schmerzen mehr. Vor etwas mehr als einem Monat war die bedingungslose Kapitulation in Kraft getreten. Als er zu Hause ankommt, wiegt er keine 50 Kilo mehr. Nach dem Lager in Rospe hatte er drei Wochen mit der Ruhr auf den Rheinwiesen bei Remagen gelegen. Zu Hause angekommen, will er einfach nur schlafen.

(RP)
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