Interview „Es gibt zu viel Egoismus in der Welt“

Solingen · Der Vorsitzende der Solinger Freiwilligen Agentur ist ständig auf der Suche nach Menschen, die ein Ehrenamt übernehmen wollen. Der Bedarf wächst.

 „Die Stadtbibliothek ist unser wichtigster Standort“, sagt Hans-Reiner Häußler. Seit 2019 bietet die Solinger Freiwilligen Agentur dort einen zusätzlichen Samstagstermin an – speziell mit Blick auf Berufstätige, die sonst keine Zeit haben. Häußler: „Das hat sich als gut herausgestellt.“

„Die Stadtbibliothek ist unser wichtigster Standort“, sagt Hans-Reiner Häußler. Seit 2019 bietet die Solinger Freiwilligen Agentur dort einen zusätzlichen Samstagstermin an – speziell mit Blick auf Berufstätige, die sonst keine Zeit haben. Häußler: „Das hat sich als gut herausgestellt.“

Foto: Fred Lothar Melchior

Wie war der Start ins neue Jahr für die Solinger Freiwilligen Agentur?

Häußler Am letzten Dienstag hatten wir bei unserer Beratung zwölf Interessenten, jeweils sechs vor- und sechs nachmittags. Von daher hat das Jahr gut angefangen, obwohl sich die Hälfte nur informieren wollte.

Dass aus Interessenten auch Helfer werden, steht also auf einem anderen Blatt.

Häußler Ich sage bei den Beratungen immer: Ihr wollt anderen helfen, aber es muss auch etwas für euch bringen. Manche kommen mit falschen Vorstellungen. Beim Ehrenamt verpflichtet man sich, baut Beziehungen auf, die man nicht einfach abbrechen kann. Manche sind sich auch nicht im Klaren darüber, ob sie mit Demenzkranken umgehen können. Bei 15 Prozent der Interessenten, also etwa jedem siebten, kam es 2019 zu keiner Vermittlung.

Was schade ist, weil die Nachfrage nach Ehrenamtlern wächst, das Angebot aber nicht.

Häußler Im letzten Jahr haben wir mit Mühe und Not die Zahl von 100 Beratungen überschritten. Zum Vergleich: 2017 waren es noch 150 und 2015, im Jahr der Flüchtlingswelle, sogar 227. Ich habe den Eindruck, dass es in der Welt zu viel Egoismus gibt.

Wer sucht in Solingen gerade ehrenamtliche Helfer, wer steht auf Ihrer Warteliste?

Häußler Aktuell haben wir an die 30 Fälle. Jeder Kindergarten, jede Schule, jedes Seniorenheim, jedes Museum braucht Ehrenamtler – wie beispielsweise auch die Gruppen, die Parks pflegen. Es besteht so viel Bedarf, dass fast jeder Interessent etwas in der Nähe seiner Wohnung findet. Denn einen Fahrtkostenzuschuss gibt es im Regelfall nicht. Es ist eine freiwillige, unentgeltliche Arbeit.

Für welche Bereiche interessieren sich Ihre Gesprächspartner am meisten?

Häußler Die größte Gruppe möchte etwas mit Kindern und Jugendlichen machen. Fast 30 Prozent der Interessenten haben wir 2019 etwa an Kindergärten und Schulen gebracht. Dort basteln und musizieren sie mit den Kleinen, übernehmen Lesepatenschaften oder helfen bei den Hausaufgaben. Inzwischen suchen Schulen auch verstärkt Helfer für Integrationsklassen.

Und wo engagieren sich die
Übrigen?

Häußler Gut 20 Prozent entschieden sich im letzten Jahr für die Betreuung von Senioren. Im Bereich Soziales, etwa bei der Tafel, waren es rund zehn Prozent; Einsätze in der Natur suchten zwölf Prozent der Beratenen.

Setzen sich Frauen stärker als Männer und Ältere stärker als Jüngere ein?

Häußler Bei den Beratungsgesprächen sind zwei von drei Interessenten Frauen. Mehr als die Hälfte der Helfer gehört zur Generation 60plus. Erfreulich ist, dass wir inzwischen mehr Jüngere ab 50 Jahren haben. Und jeder Fünfte ist sogar nicht älter als 30 Jahre.

Was Sie mit Ihrem Jugendprojekt noch ausbauen wollen.

Häußler Es soll ein Projekt werden, das fünf Jugendliche um die 25 selbst durchführen. Mit der 27-jährigen Julia Schaberg haben wir bereits eine Projektleiterin; die anderen werden noch gesucht. Die Gruppe soll 14- bis 28-Jährige finden, die sich in einem halben Jahr rund 30 Stunden engagieren und zum Abschluss ein Zertifikat erhalten – das sich auch gut für den Lebenslauf macht. Momentan verläuft alles noch etwas zäh, aber wir sind nicht unter Zeitdruck. Viele engagieren sich schon im Sport. Wir möchten, dass sie auch andere Ehrenämter ausfüllen.

Staatssekretärin Andrea Milz hat den Remscheider „Lütteraten“ gerade ein Speed-Dating fürs Ehrenamt vorgeschlagen.

Häußler Frau Milz war im letzten Jahr auch bei uns zu Gast. Wir wollen uns nicht überfrachten, sondern versuchen zunächst, das Jugendprojekt durchzuführen.

Was würde Ihnen die Arbeit erleichtern?

Häußler Wir machen alle Büroarbeit von zu Hause aus. Wir hätten gerne ein kleines Ladenlokal. Da geht es auch um „Laufkundschaft“. Dazu braucht man aber Sponsoren.

Oder Unterstützung durch die Stadtverwaltung?

Häußler Die Stadt stellt uns einen Sitzungsraum für unser zweimonatliches Meeting zur Verfügung. Ansonsten machen wir alles privat und ehrenamtlich, während es beispielsweise in Wuppertal eine hauptamtliche Kraft gibt.

Sie arbeiten gerade an einer Chronik, einer Bilanz der ersten 15 Jahre. Worauf kann der Verein besonders stolz sein?

Häußler Wir haben seit dem Beginn im Jahr 2004 rund 1500 Frauen und Männer vermittelt. Das ist eine stolze Zahl. Außerdem gibt es immer wieder besondere Projekte wie den „Dialog in Deutsch“, den wir gemeinsam mit der Stadtbibliothek durchführen. Zweimal pro Woche bieten wir Menschen mit Migrationshintergrund die Gelegenheit zu Gesprächen. Das wird sehr gut angenommen. Dafür suchen wir weitere Unterstützer.

Sonst sind Sie als Vorsitzender der Freiwilligen Agentur wunschlos glücklich?

Häußler Es macht mir nach wie vor Spaß. Aber natürlich gibt es nicht nur den Wunsch nach einem Ladenlokal. Große Projekte wie unser Imagefilm sind nur mit Hilfe von Sponsoren möglich. Für den Verein suchen wir außerdem nicht nur weitere Berater, sondern auch jemand für den IT-Bereich, der unsere Homepage pflegt, und jemand für die Öffentlichkeitsarbeit.

Bleibt neben Ihrem Einsatz für die Freiwilligen Agentur noch Zeit für weiteres Engagement?

Häußler Ich engagiere mich in der katholischen Kirche Krahenhöhe als Kommunionhelfer sowie als Lektor für Sonntagslesungen und Fürbitten. Außerdem spiele ich Akkordeon und singe, zum einen in der Schola Gregoriana Weeg, zum anderen beim Ensemble Saitenholz der Musikschule.

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