Julie Siemering rettet Rinder vor dem Schlachter Diese Kühe dürfen glücklich sein

Solingen/Mettmann · Julie Siemering bietet in Solingen und Mettmann Kuhkuscheln an. Wer mag, kann sich den Tieren in aller Ruhe nähern und sie streicheln. Der Spaß hat jedoch einen ernsten Hintergrund.

Fotos: Kuscheln mit zahmen Kühen in Solingen und Mettmann
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Kuscheln mit den Kühen „Noni“ und „Lina“

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Foto: RP/Alexandra Rüttgen

Schlaftrunken öffnet Lina ihre Augen. Unter langen Wimpern sucht ihr Blick die Gestalt von Julie Siemering. Die hat sich auf den Boden gesetzt und fängt an, die Kuh zu kraulen. Und es dauert nicht lang, bis Lina genießerisch ihren Hals in die Höhe reckt. Zugleich gibt sie brummende Laute von sich. Fast wie ein Schnurren. So etwas kennt man von Katze oder Hund. Aber von einer Kuh ?

Irgendwo am Stadtrand von Solingen stehen auf einer Weide drei Rinder. Julie Siemering hat sie gerettet. Ihr Ende beim Schlachter schien schon besiegelt. Doch die heute 22-Jährige setzte alles daran, dass die Tiere leben dürfen. Und das tun sie jetzt in der Klingenstadt.

Mit Noni und Lina fing alles an. Eigentlich lautet der richtige Name von Noni „Noname“, übersetzt: kein Name. In Kontakt kam sie mit beiden Tieren auf dem Hof ihrer Großeltern. Vier Rinder hatten diese, als der Großvater starb und die Großmutter überlegte, sie wegzugeben. Zwei wurden schließlich verkauft. Aber „Lina“ und „Noname“ waren noch Kälber. „Ich konnte das nicht ertragen, dass die Tiere getötet werden sollen. Sie waren meine Freunde, meine Familie.“ Schließlich hatte sie die Rinder mit der Flasche aufgezogen. Und so kam es, dass „Lina“ und „Noni“ weiterleben durften. Als die Tiere heranwuchsen, suchte und fand sie schließlich eine Weide in Solingen.

Es folgten weitere Rinder, die sie rettete, darunter eine kleine Herde aus Anbindehaltung, für deren Befreiung sie und Mitstreiter ein Fundraising betrieben. Sie stehen nun an verschiedenen Standorten – nicht alle Tiere behält sie in ihrer Obhut. Aber für 15 Rinder sorgt sie selbst. Diese stehen auf Weiden und Höfen in Solingen, Mettmann und Meinerzhagen.

Das kostet Geld. Nicht nur der Kaufpreis schlägt dabei zu Buche, sondern auch das Futter, die Pacht für Weiden und Miete für Ställe, Tierarztkosten. „Rund 100 Euro benötige ich pro Tier im Monat“, schätzt sie. Das meiste davon kommt über Spenden und Patenschaften rein. Doch wenn das nicht reicht, muss sie auch mal an ihre Reserven ran. „Das hat bisher immer geklappt“, sagt sie.

Und doch mischt sich auch ein Wermutstropfen in all die Freude. „Die Versorgung der Tiere ist unfassbar kräftezehrend“, sagt die heute 22-Jährige. Zwischenzeitlich hat sie eine Ausbildung zur Erzieherin absolviert, arbeitet halbtags in ihrem Beruf. Von Solingen ist sie nach Mettmann auf einen Bauernhof gezogen, wo auch ein Teil ihrer Kühe lebt. So oft es geht, besucht sie die Tiere. „Aber ab und zu brauche ich auch noch etwas Zeit für mich“, sagt sie.

Kuh „Lina“ ist sechs, Stier „Noni“ ist acht Jahre alt. Die älteste Kuh, für die sie je gesorgt hat, wurde 19 Jahre alt. Mit der Fürsorge für ihre Tiere hat Julie Siemering eine langjährige Verpflichtung übernommen. Wird sie weitere Rinder vor dem Schlachter retten? „Eher nicht“, sagt sie. Und sollte ein Tier sterben, will sie seinen Platz wohl nicht mehr durch ein neues Rind ersetzen. Auch, wenn noch so viele Lebewesen Hilfe bräuchten, so ist der jungen Frau doch bewusst geworden, dass sie sie nicht alle selbst retten kann.

Aber, wer weiß, schränkt sie dann ein. „Es kann auch gut sein, dass ich doch noch mal ein Rind rette“, sagt sie lachend, nur zu gut wissend, dass der Blick in sanfte Kuhaugen jeden Vorsatz schmelzen lassen kann. In ihrem Herzen scheint es noch viel Platz für noch viel mehr Rinder zu geben.

Wie soll ihr Leben später einmal aussehen ? Die 22-Jährige denkt lange nach. Vielleicht auch mal etwas anderes sehen, überlegt sie, „ich liebe das Meer“. Und doch sei sie froh, dass sie jetzt auf dem Bauernhof lebe. Auf solch einem Hof würde ich auch gerne meine Kinder aufwachsen sehen.“ Letztlich sei das Leben sowieso nur schwer planbar. Vieles habe sich einfach so ergeben, erzählt sie rückblickend. „Und ich bin noch nie vom Leben enttäuscht worden.“

Julie Siemering pflückt „Lina“ Zecken aus dem Fell und streift „Noni“ die Fliegen von den Augen. Das Kuhkuscheln bietet sie maximal zweimal die Woche an. „Nicht öfter, das würde die Tiere sonst stressen“. „Die meisten Teilnehmer wollen mal runterkommen. Und am Ende sind sie auch ganz entspannt“, hat sie beobachtet.

Das Glück dieser Erde liegt vielleicht auch, aber nicht nur auf dem Rücken von Pferden, findet Julie Siemering. Sie hat den Bullen Noni mit der Flasche aufgezogen.

Das Glück dieser Erde liegt vielleicht auch, aber nicht nur auf dem Rücken von Pferden, findet Julie Siemering. Sie hat den Bullen Noni mit der Flasche aufgezogen.

Foto: RP/Alexandra Rüttgen

Und tatsächlich: In Gegenwart von „Lina“ und „Noni“ scheint sich die Zeit zu verlangsamen. Nur das mit dem Kuscheln ist so eine Sache. Denn das Fell der Tiere gleicht eher dem eines Drahthaardackels. Es ist nicht wirklich weich. Selbst die plüschigen Öhrchen sind es nicht. Und ihre fast armlangen Hörner sorgen für Respekt. Doch in Nähe dieser massigen Tiere zu sein, ihre Ruhe zu genießen und sie zu betrachten, schon allein das macht zufrieden. Vielleicht auch, weil Tierschützer wie Julie Siemering den Glauben an das Gute im Menschen weiterhin zulassen. Das tröstet in Zeiten von Krieg und Krise. Zumindest ein wenig.

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