Solingen Scheinbar Bekanntes radikal neu gehört

Solingen · 6. Philharmonisches Konzert der Bergischen Symphoniker: Berlioz und Strauss mit Zeichenstift und Kabarett interpretiert.

Ein großer roter Ohrensessel steht neben dem Dirigentenpodest: wie gemacht für den netten Opa, der seinem Enkel gleich eine Geschichte vorliest und Karamellbonbons bereithält. Ob er auch ein paar davon ins Publikum wirft, an diesem Dienstag im Konzertsaal? Nein, der Karneval ist seit einer Woche vorbei, und an Michael Forster ist auch kein Märchenonkel verloren gegangen, sondern ein Musikkabarettist von Graden.

Der Oboist bei den Bergischen Symphonikern erzählt im sechsten Philharmonischen Konzert die Geschichte von Till Eulenspiegel, so wie Richard Strauss sie komponiert hat: in seiner meisterhaften Tondichtung über den Schelm. Und wie Forster sie erzählt: Das gibt nicht nur den vielen Junghörern an diesem Abend Neues, sondern auch altgedienten Konzertbesuchern, die längst zu wissen meinen, was so eine symphonische Dichtung ist.

Amüsant ist das, anschaulich und auch aktuell, etwa wenn Forster bei der Gerichtsverhandlung gegen den Narren auf den Prozess gegen Uli Hoeneß anspielt und Tills Straftaten auf 27,5 Millionen quantifiziert. Forster hat aber nicht nur kabarettistische Qualitäten, sondern kann auch wunderbar Musik erklären. Und so hört man das wohlbekannte Stück dann doch neu - auch durch die derbe Drastik, mit der Peter Kuhn und seine Symphoniker sie absichtsvoll ausformulieren - doch auch mit kultivierter Klangkomik. Auf dem Sessel sitzt der Moderator dabei kaum, schweift vielmehr zu seinem Geigerkollegen, dem Musikkarikaturisten Robin Chadwick, der immer wieder die Violine mit dem Zeichenstift vertauscht, die Episoden der "Till"-Sage illustriert - und seine Zeichnungen anschließend, als Peter Kuhn das Stück im Zusammenhang und (fast) ohne Worte dirigiert, wie ein Bänkelsänger umwendet und dabei noch kurz koloriert.

Ohne Worte, doch mit einer ähnlich radikalen Lesart tragen die Symphoniker nach der Pause auch die Symphonie fantastique von Hector Berlioz vor: auch dies Musik über eine Geschichte, und zwar die einer "Amour fou", der ziemlich wahnsinnigen Liebe eines Künstlers zu einer idealisierten Frau, die zu seiner "Idée fixe" wird - übrigens auch musikalisch. Kuhns ungeschminkte Interpretation ließ keine Zweifel daran, welch psychopathologisches Potenzial auch in Berlioz' Musik steckt. Ob nun der teils spartanische Einsatz der eigentlich reichlich vorhanden Orchesterinstrumente; fahle Klänge gestopfter Bläser und gedämpfter Streicher; scheinbar unmotiviert unterbrochene Melodien; plötzliche, überraschende Akzente; der zunächst frei schwebende Dialog zwischen Englischhorn und Oboe (letztere hinter der Szene); die effektvoll inszenierten paarweisen Auftritte von Harfen, Pauken und Trommeln: All das klang fast, als wär's ein Stück von Freud. Und so evozierte nicht erst Kuhns rasanter Endspurt des finalen Hexensabbat Bravorufe.

(um)
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