Museumsspaziergänge Im Industriemuseum wird erklärt, was Solingen ausmacht

Solingen · Ein produzierendes Museum – das bleibt die Gesenkschmiede Hendrichs auch nachdem sie die Fertigung für kleinere Firmen aufgegeben hat.

 Im Keller der ehemaligen Gesenkschmiede Hendrichs befindet sich ein umfangreiches Werkzeuglager. Bis vor zwei Jahren wurden für kleinere Firmen noch Scherenrohlinge produziert.

Im Keller der ehemaligen Gesenkschmiede Hendrichs befindet sich ein umfangreiches Werkzeuglager. Bis vor zwei Jahren wurden für kleinere Firmen noch Scherenrohlinge produziert.

Foto: Fred Lothar Melchior

Es war 1983, als Jochem Putsch und Manfred Krause auf ihrem Weg in die Cevennen in der französischen Messerstadt Thiers Station machten. „Dort hatte gerade das neue Schneidwarenmuseum mit integrierten Arbeitsplätzen eröffnet,“ erzählt Putsch. Die beiden Studenten waren begeistert: „Ein derartiges Museum brauchen wir in Solingen auch. Dafür ist es höchste Zeit.“

Zwei Jahre lang arbeitete Putsch im Stadtarchiv an einem Konzept für das Museum. „Mir war von Anfang an klar: Das muss in einer Gesenkschmiede stattfinden.“ Die fand sich rascher als erwartet. Am 15. September 1986 stellte die Firma F. & W. Hendrichs in Merscheid ihre Arbeit ein. „Das war eine Fügung“, sagt der heute 63-Jährige im Rückblick. Auch deshalb, weil der Landschaftsverband Rheinland bereits ein Rheinisches Industriemuseum plante. Putsch: „Damals war auch Remscheid als Standort im Gespräch.“

 Vier- bis fünfmal im Jahr findet im Industriemuseum ein „Dieseltag“ statt.

Vier- bis fünfmal im Jahr findet im Industriemuseum ein „Dieseltag“ statt.

Foto: Fred Lothar Melchior

Stattdessen floss Geld vom Städtebauministerium (90 Prozent) und vom LVR in die Klingenstadt. Jochem Putsch, der eigentlich Lehrer am Gymnasium werden wollte und sein Referendariat in Hattingen ableistete, wurde zwei Wochen nach der Firmenschließung Museumschef. „Ich hatte die Leitungsfunktion, durfte aber selber schrauben.“ Und zu schrauben gab es einiges in dem neuen Museum, das schon am 7. November 1986 eröffnet wurde: „In den ersten Wochen ging es vor allem um Arbeitsschutzmaßnahmen.“

 Schlosser und Messermacher Thomas Pludra mit einem Spaltstück am Hammer.

Schlosser und Messermacher Thomas Pludra mit einem Spaltstück am Hammer.

Foto: Fred Lothar Melchior

Die Idee war von Anfang an, ein produzierendes Museum zu schaffen. Das erste Team bestand aus acht Hendrichs-Mitarbeitern sowie einer Bürokraft – und dem „schraubenden“ Leiter, der in aller Hast noch seine Dissertation vollendet hatte. Ihr Titel: „Vom Ende qualifizierter Heimarbeit – Rationalisierung am Beispiel Solingen“. Die Klingenstadt als Exempel: „Die Stadt und die bergische Region haben eine ganz eigene und sehr spannende Geschichte“, betont der Historiker, der auch Sozialwissenschaften studierte. „Wir erklären, was Solingen ausmacht.“

 Mitte September 1986 stellte die Firma F. & W. Hendrichs die Arbeit ein. Halbfertige Schlüssel sind in den Räumen immer noch zu finden.

Mitte September 1986 stellte die Firma F. & W. Hendrichs die Arbeit ein. Halbfertige Schlüssel sind in den Räumen immer noch zu finden.

Foto: Fred Lothar Melchior

„Ich war sehr glücklich über die neue Stelle, wäre ungern aus Solingen weggezogen“, berichtet Putsch. „Das ist der schönste Arbeitsplatz, den ich mir vorstellen kann. In den ersten Jahren habe ich im Kontor an einem Bollerofen gesessen und habe den Prozess begleitet, wie die Leute vom Fabrik- zum Museumsarbeiter wurden.“ Wobei die Scherenschlägerei und Gesenkschmiede noch bis vor zwei Jahren „fleißig für kleinere Firmen Scherenrohlinge produzierte“. Putsch: „Wir waren gleichzeitig Museum und eine veritable Fabrik – mit einer Konzession für die Hämmer und einer Zulassung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz. Hendrichs hatte viele Muster, die man woanders nicht beziehen konnte.“

    Dr. Jochem Putsch übernahm 1986 die Leitung und den Aufbau des Rheinischen Industriemuseums an der Merscheider Straße.

  Dr. Jochem Putsch übernahm 1986 die Leitung und den Aufbau des Rheinischen Industriemuseums an der Merscheider Straße.

Foto: Fred Lothar Melchior

„Heute haben wir jederzeit Vorführbetrieb“, unterstreicht der „Schauplatzleiter“. „Wir können immer einen Rohling schmieden und haben sehr viele Maschinen, die wir anwerfen können.“ Der fachkundige Kommentar kommt von zwei fest angestellten Mitarbeitern und einem zeitweise anwesenden Fachmann für die Schleiferei. „Dass die meisten Exponate nicht hinter Glas sind, das macht den großen Unterschied“, betont der Schlosser und Messermacher Thomas Pludra, der seit elf Jahren in dem Museum tätig ist und auch Schmiedekurse gibt.

„Vor drei, vier Jahren haben wir uns Gedanken gemacht, wie man die Angebote für Besucher ausbauen kann“, erläutert Jochem Putsch. „Wie können wir unsere Inhalte spannend halten?“ Zu den vielen neuen „Entdeckerstationen“ zählt beispielsweise ein Hammer, den Interessierte selbst betätigen können. Natürlich gehören auch Kurse für Kinder und Führungen dazu – auch durch den fast 80-jährigen ehemaligen Hendrichs-Mitarbeiter Karl-Heinz Berger.

Auch Sonderausstellungen wie die aktuelle über die europäische Schneidwarenindustrie (bis Ende Juni), Werkstattgespräche und vieles andere sind Teil des Angebots. Das Museum beschäftigt zwei Halbtags-Museumspädagogen und einen Kulturvermittler.

„Richtig fertig geworden ist alles erst 1999“, erinnert sich Putsch in seinem Büro in der Fabrikantenvilla, die (mit Extra-Audioguide) ebenfalls besichtigt werden kann. „Für Kopfmenschen ist eine Fabrik ein exotischer Ort und immer interessant“, urteilt der Akademiker – und meint damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Besucher. Die stammen aus Nachbarstädten, von der Rheinschiene und dem Niederrhein, aus der Eifel und aus dem Sauerland. Viele Solinger, vermutet Schlosser Thomas Pludra, hätten dagegen noch nie einen Fuß in das Museum gesetzt, weil man – vermeintlich – ja ohnehin alles kenne.

Im Schnitt kommen jedes Jahr etwa 35.000 Besucher in die Gesenkschmiede Hendrichs und ihre Nebenstellen wie die Taschenmesserreiderei Lauterjung in Höhscheid und die Loosen Maschinn in Widdert. 2018 waren es nur zirka 32.000. „Im Vergleich zu anderen Industriemuseen stehen wir aber gut da“, relativiert Jochem Putsch die Differenz. „Bei allen Museen sind die Besuche von Schulklassen zurückgegangen.“

Am 22. Februar wird Putsch in den Ruhestand verabschiedet. Dann hat er wieder mehr Zeit fürs Privatleben. Wird es eine Zäsur für ihn? „Das Museum war mein Baby. Aber irgendwann muss man die Kinder aus dem Haus lassen. Ich war nie ein Frühstücksdirektor und konnte immer auch inhaltlich arbeiten. Natürlich wünscht man sich, dass vieles, das man aufgebaut hat, weitergeführt wird.“

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