20 Jahre Brandanschlag von Solingen Mevlüde Genç: "Lasst uns Freunde sein"

Solingen · Das Dach weggebrannt, die Fenster im Inferno zerplatzt, das Wohnhaus eine Ruine. In den Flammen starben am 29. Mai 1993 durch einen Brandanschlag in Solingen fünf Mädchen und Frauen.

 Das Foto von 1993 zeigt die Särge der fünf türkischen Frauen und Mädchen vor dem ausgebrannten Haus in Solingen. Heute stehen dort fünf Kastanien für die Opfer im Alter zwischen vier und 27 Jahren.

Das Foto von 1993 zeigt die Särge der fünf türkischen Frauen und Mädchen vor dem ausgebrannten Haus in Solingen. Heute stehen dort fünf Kastanien für die Opfer im Alter zwischen vier und 27 Jahren.

Foto: dpa

Das Feuer in dem Wohnhaus einer türkischen Großfamilie war 1993 der traurige Höhepunkt einer Reihe rechtsextremistischer Anschläge in Deutschland. Die Schlagzeilen gingen um die Welt. Vier junge Männer wurden später vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Mordes verurteilt. Die Strafen sind verbüßt.

An Mittwoch ist der 20. Jahrestag. Wo einst das Haus war, stehen heute fünf Kastanien für die Opfer im Alter zwischen vier und 27 Jahren. Ihre Namen sind auf einer kleinen Metallplatte in der stillen Wohnstraße eingraviert. Mevlüde Genç verlor hier zwei Töchter, Enkelinnen und eine Nichte. 14 Familienmitglieder überlebten mit teils schwersten Brandverletzungen. Die alte Dame, die ein Kopftuch trägt und stets türkisch spricht, besucht einmal im Monat den Ort. "Wenn sie nicht hinginge, würde sie sich nicht wohlfühlen", sagt ihr Dolmetscher.

Die Gençs sind in Solingen geblieben, und die Stadt ist dankbar dafür. In der aufgewühlten Stimmung nach dem Brandanschlag, als wütende türkische Jugendliche durch die Stadt zogen, meldete sich das weibliche Oberhaupt der Familie zu Wort. "Lasst uns Freunde sein", sagte damals Mevlüde Genç, die selbst Opfer ist, in einem ergreifenden Appell. Seitdem tritt sie immer wieder für Verständigung und Dialog ein, hat das Bundesverdienstkreuz bekommen und den Bundespräsidenten mitgewählt.

Die Familie nimmt an der offiziellen Gedenkfeier der Stadt teil und begrüßt die Gäste gemeinsam mit Oberbürgermeister Norbert Feith (CDU). Nordrhein-Westfalen wird durch die stellvertretende Ministerpräsidentin Sylvia Löhrmann (Grüne) vertreten, die seit langem in Solingen lebt. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, kommt. Anschließend geht es zu dem Mahnmal, das vor einem Berufskolleg steht: Es zeigt einen Mann und eine Frau, die ein Hakenkreuz zerreißen.

Die Industriestadt im Bergischen Land nimmt den traurigsten Tag in ihrer Geschichte zum Anlass, auch nach vorn zu schauen. Während der Gedenkveranstaltung wird der "Silberne Schuh" verliehen. Der Preis für Zivilcourage würdigt mutiges Eintreten für Minderheiten. Erster Preisträger war 2004 ein Mann, der sich der Anweisung seines Chefs widersetzt hatte, keine Türkinnen mehr einzustellen.

Die Stadt hat das Erbe angenommen: Man müsse es als Auftrag gestalten, sagt der Oberbürgermeister. Die Integrationsarbeit der Industriestadt ist inzwischen anerkannt, es gibt feste Verbindungen zu Zuwanderern. Als etwa im Mai 2012 radikale islamistische Salafisten in Solingen einen Stützpunkt aufmachten, formulierten Stadt und muslimische Vereine eine gemeinsame Erklärung und organisierten ein Informationsprogramm.

Was in der Nacht zu Pfingstsamstag 1993 geschah, erzählt Mevlüde Genç ihren kleinen Enkeln bis heute nicht. "Sie werden im Erwachsenenalter erfahren, was genau passiert ist", sagt die 70-Jährige. Die Täter hätten eine gerechte Strafe erhalten, bekräftigt die Frau mit dem ernsten Gesichtsausdruck. Drei hatten Jugend-Höchststrafen von 10 Jahren, einer hatte 15 Jahre Haft bekommen. "Da die Strafe abgesessen ist, ist das Thema insoweit erledigt", sagt die gläubige Muslimin. Alles andere betreffe die Zeit nach dem Tod und vor Gott.

Seit einem Jahr hat Solingen einen Mercimek-Platz, benannt nach dem türkischen Heimatort des Ehepaares, das seit mehr als 40 Jahren in der bergischen Stadt lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft hat.
Hier sei ihre Heimat, sagen Mevlüde und ihr Mann Durmus Genç. Ihr Sohn Kamil sieht das auch so: "Ich bleibe hier."

Der berühmte Appell "Lasst uns Freunde sein" kommt zum 20. Jahrestag massenhaft auf T-Shirts. Sie werden am 28. Mai gezeigt, wenn die Initiativen, die das Gedenkjahr mitgestalten, sich präsentieren. Die Hemden werden gegen eine Spende abgegeben: Viele Projekte wollen finanziert werden - Sommersprachkurse für die Kinder von Neu-Solingern etwa.

(dpa/irz/anch/jco/top)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort